Friedrich Merz, der Überflieger. Versuch Nr. 65

Friedrich Merz ist noch für kurze Zeit Kandidat um den CDU-Vorsitz. Somit ist er entweder bald der neue Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union und potenzieller Kanzlerkandidat oder ein erneut gescheiterter Bewerber. Wie er mit der einen wie auch der anderen Sache umgehen dürfte, wird sich zeigen. Dass die CDU mit ihm wieder ein Stück „konservativer“ würde, das dürfte feststehen (wie schwammig dieses Wort sein kann, haben wir hier einbezogen). In seinem neuen Buch Neue Zeit. Neue Verantwortung. Demokratie und Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert positioniert er sich primär als vorausschauender Europäer, Verfechter der katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik als Geburtshelfer der Sozialen Marktwirtschaft, als der Mann, der die richtigen Antworten auf alles hat und im Grunde als unfehlbar und somit die einzig vernünftige Option als Vorsitzenden und Kanzler.

Das Ego Fritz, das Ego

Dass sich Friedrich Merz so sieht, dürfte dabei wenig überraschen. Dass Friedrich Merz ein durchaus äußerst kluger und analytisch begabter Kopf ist, der es schafft, komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar begreifbar zu machen, ebensowenig. Auch unabhängig davon wie man inhaltlich oder menschlich zu ihm steht, kann ihm das zugestanden werden. Dass er ein Ego hat, welches gerade mal in einem 5 000 Quadratmeter-Raum Platz finden dürfte, nun ja. Störend mag vor allem seine unbedingte Selbstgerechtigkeit sein. Diese und die Überhöhung seiner Person stören an seinem Buch und der Vorlage für ein Wahlprogramm der CDU Neue Zeit. Neue Verantwortung.

Zu allem muss unbedingt etwas gesagt werden. Und unzweifelhaft interessant sind seine Gedanken zu gemachten Fehlern in der Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktpolitik und je nach politischem Standpunkt, sind auch die von ihm gezogenen Schlüsse mindestens einen genaueren Blick wert. Ebenso ist sein Vorschlag für einen neuen Generationenvertrag zwar, wie er auch selbst sagt, noch lückenhaft, aber ein guter Anfang. Völlig recht hat er, wenn er über die Angst der Deutschen vor privater Vermögensbildung und die Mitschuld des Staates daran referiert. Aber er möchte alles ansprechen. Also stammelt er sich irgendwas zu weiterer Digitalisierung ab und klingt dabei genauso inkompetent wie Anja Karliczek es wohl ist. Die Punkte zu Einwanderung und Integration sind ein großes Wischi-Waschi möglichst konservativ klingender Allgemeinplätze, bemüht um ein christliches Menschenbild (auch so lala) und lesen sich im Grunde wie ein gehaltloses Best-Of zurecht verhallter Gedanken der letzten Dekade. 

Somit ist die Hälfte seine ausführlichsten Kapitels und großen Zukunftsentwurfs „Deutschland 2030: Ein dynamisches und lebensfrohes Land“ also mindestens unter ferner liefen, teils auch ärgerlich, zu verbuchen. Gedanken zu beginnen, ohne sie zu Ende zu bringen, sollte doch seine Sache nicht sein. An diesen Stellen liest sich Neue Zeit. Neue Verantwortung. leider fast wie das aufgeblasen sinnentleerte Beschwerde-Pamphlet Im Dienste der Überzeugung von Werte-Unionist Alexander Mitsch (oh ja, eine Besprechung kommt). 

Allgemeinplätze außer bei Außenpolitik

Ein Kapitel widmet sich dem Thema „Die Soziale Marktwirtschaft ökologisch erneuern“ und hier sehen wir, dass er sich mit diesem Thema gefühlt erst seit vorgestern auseinandersetzt. Sicherlich stimmt es, dass der Absolutheitsanspruch von Greta Thunberg und Co. schlicht keine Grundlage für eine vernünftige Gestaltung bietet, das haben wir an diversen Stellen besprochen und kommentiert. Mit wirklich brauchbaren eigenen Vorschlägen oder etwas Gehaltvollem, das über leichte Gedankenblasen hinausgeht, wartet Friedrich Merz allerdings nicht auf.

Ein weiterer großer Abschnitt befasst sich mit Europa und der Rolle Deutschlands innerhalb der Europäischen Union und wiederum mit deren Rolle in der Welt, insbesondere gegenüber China, Russland und den USA. Auf diesen etwa fünfzig Seiten glänzt Merz ohne jeden Zweifel. Er ist nicht nur Europäer und Transatlantiker in Einem, weil das so gut klingt, sondern er durchdringt auch die Sachzusammenhänge und Problemlagen und kann somit recht vorausschauend Konfliktpotenziale ausmachen und mit alles in allem guten Vorschlägen aufwarten, wie diese zu vermeiden wären. Dies ist im Übrigen auch das einzige Kapitel, in dem wir Leser*innen nicht das Gefühl haben, Merz glaube alles in einer einzig großen Ein-Mann-Nummer erledigen zu können (dazu gleich mehr).

Natürlich endet er mit dem Beitrag zur „CDU in der politischen Verantwortung“ und umreißt noch einmal, wofür die CDU steht. Kurz: Alles und vor allem Alles Gute. Der Abschnitt liest sich in Teilen wie ein Wikipedia-Artikel, wie überhaupt einige Teile seines Buches. Hier gibt er auch seine Ziele für die CDU, Deutschlands und Europas aus, die im Grunde eine verantwortungsvoll konservative, aber weltoffene und den Menschen zugewandte, Chancengerechtigkeit versprechende, vor allem in Bereichen der Wirtschaft ökologisch-liberale, Generationengerechtigkeit schaffende und schlicht wunderbare Zukunft bedeuteten. Schlagworte sind was Schönes oder um eine Wortverwendung von Merz frei zu nutzen: Words matters!

Achtung: Homosexuelle und Frauen! 😱

Gedanken matters ebenso. Zwar bringt er recht selbstverständlich auch die Ehe für alle als akzeptierte familienpolitische Konstellation ein. Doch merkt man dem Buch sein Unwohlsein mit der Sache an, wie auch den Gedanken, was Familie eigentlich sein sollte. Seine jüngsten Äußerungen, die, ob unbedacht oder ganz bewusst getätigt, tief in eine nicht als emphatisch oder der Nächstenliebe zuzuordnende Gedankenwelt blicken lassen, sprechen Bände. Es geht dabei nicht darum, dass er zum nächsten großen CSD kommen solle, es geht darum, dass er ein Menschenbild aus dem vorvergangenen Jahrhundert pflegt.

Das setzt sich in seiner doch eher abschätzigen Haltung Frauen gegenüber fort. Diese zeigte sich auch in der letzten offiziellen Kandidatenrunde klar, als er sagte es habe sich ja „nur der Vorstand“ der Frauen-Union gegen ihn ausgesprochen. Das ist despektierlich gegenüber der Frauen-Union als großer und wichtiger Gruppierung innerhalb der Union, deren Vorstand und speziell der Vorsitzenden Annette Widmann-Mauz, wie auch gegenüber allen Mitgliedern die abgestimmt haben. Folgerichtig sollte dann jedoch auch die Empfehlung von 10 (!) Prozent der Jungen Union und deren Vorsitzenden Tilmann Kubans für Friedrich Merz komplett in die Tonne gehauen werden.

Apropos Frauen: Friedrich Merz ist bekanntlich gegen jede Art von Frauenquote, was er auch im Buch wieder betont. Um aber seine Position als Frauenversteher und -förderer zu untermauern und klar zu machen, dass Frauen ja gar keine Quote bräuchten (oder wollten), zieht er dann ausgerechnet ein Zitat von Rita Süssmuth heran: „Wer die Quote nicht will, muss die Frauen wollen.“ So ergänzt er: „Das ist es, was wir erreichen müssen: dass Frauen gerne in der CDU mitwirken, dass sie die sich bietenden Chancen ergreifen wollen und dass ihnen Chancen nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich geboten werden. Wir haben inzwischen eine gute Tradition prominenter Frauen in absoluten Spitzenpositionen […]“ (S. 228). Das so hintersinnig garstig wie ärgerlich. Und auch hier folgen Allgemeinsätze zur vermeintlichen Verbesserung der Situation, die so auch schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn zu vernehmen waren.

Was wäre wenn?

Bei Neue Zeit. Neue Verantwortung. handelt es sich um einen „Was wäre wenn“-Forderungskatalog. Es stößt auf, das Merz beinahe so tut, als könne er mit absoluter Mehrheit, ohne Bundestag und Bundesrat, ohne vielleicht auch eigenwillige Minister und Staatssekretäre durchregieren. Kann natürlich so gemacht werden, es ist ein typisches „Wählt-mich“-Buch und diese sind naturgemäß selten differenziert (was zumindest Teile von ihnen häufig so haltbar macht wie Weißbrot). 

Schlimmer allerdings ist, dass er auch Versäumnisse häufig zwar erwähnt, aber nicht einordnet. Das klingt so, als hätte die CDU die vergangenen 15 bzw. 16 Jahre einfach keinen Bock gehabt, als hätten sie nicht mit Koalitionspartnern Politik machen müssen, als hätten sie es nicht zumindest versucht, für ganz Deutschland und nicht immer ausschließlich für die eigene Klientel zu arbeiten. 

Hier wünscht man sich beinahe, dass Merz Parteivorsitzender und schließlich Kanzler würde. Und dann? Eine Was wäre wenn-Frage von mir: Was wäre, wenn dann wieder nur eine Koalition mit der SPD möglich wäre? Was wäre, wenn Saskia Esken seine Vizekanzlerin würde? Abgesehen von einem sicherlich hohen Unterhaltungswert: Welche seiner vor allem wirtschafts- und finanzpolitisch durchaus nicht abwegigen, aber mit einer SPD nicht zu machenden, Forderungen ließen sich dann durchsetzen? 

Für einen Ex-Politiker mit Quereinstiger 2.0-Ambitionen scheint es zuweilen erschütternd, wie wenig er entweder selber von Realpolitik versteht oder hält oder den Leser*innen und potenziellen Wähler*innen an Wissen zutraut. Der Fairness halber sei allerdings auch erwähnt: Friedrich Merz, äußert an anderer Stelle durchaus auch höflich seine Anerkennung gegenüber der Leistungen Angela Merkels und erwähnt, dass Deutschland alles in allem gut aufgestellt sei. Was er kürzlich auch in einem Interview wiederholte. 

Merz ist Zukunft? Ja, 1980.

Das wiederum allerdings klingt nach Widersprüchen. Aber was soll’s, zumindest seine #Team-Merz-Anhäger*innen werden sich daran nicht stören. Wohl auch nicht daran, dass er in besagtem Interview ebenfalls zu Protokoll gab, bei einer Niederlage wäre er auch bereit „eine andere wichtige Rolle“ in der Partei zu übernehmen, das müssten dann der neue Parteichef und die Kanzlerin klären, er selbst beschäftige sich nicht mit der Frage. Nun, scheinbar ja doch. Aber vor allem: Wieso die Kanzlerin einbeziehen? Angela Merkel hat innerhalb der Partei CDU kein Amt mehr, sie ist zwar Kanzlerin, aber sonst „nur“ einfache Bundestagsabgeordnete. Möchte er das etwa so verstanden wissen, dass wenn nicht ein starker Mann wie er Vorsitzender würde, Merkel ohnehin die eigentliche Chefin bliebe und nichts ohne sie liefe? Ein Schelm wer sich dies denkt, statt es einfach als eine Respektbekundung zu verstehen. Nein, vermutlich geht es wohl auch darum, dass er auf einen Kabinettsumbau schielt und einmal mehr gern Minister würde.

Also egal, ob Merz Vorsitzender wird oder nicht: Er betrachtet sich als wichtigen Faktor für die Zukunftsfähigkeit seiner Partei, des Landes und so weiter (und wie toll erst die Vergangenheit mit ihm hätte sein können!). Seine Einlassungen und vor allem sein Buch, das mehr noch als als Bewerbungsbuch um den Vorsitz als eines zur Kanzlerschaft verstanden werden kann, machen das mehr als deutlich. Vielleicht lassen sich dieses Mal ja auch Delegierte, Leser*innen und schließlich möglicherweise gar Wähler*innen davon überzeugen. Der Autor dieser Zeilen war es früher einmal, ist es seit geraumer Zeit nicht mehr und die Lektüre des neuen Buches des Sauerländers verstärkt den Wunsch, Friedrich Merz möge ein Sachbuch über die Geschichte der Europäischen Union schreiben und in den Ruhestand gehen.

Friedrich Merz versucht es erneut: CDU-Vorsitz und Kanzleramt wollen erobert werden. Sein Konzept für die „Neue Zeit. Neue Verantwortung.“ legt er in ebenjenem Buch vor. Es klingt im Guten wie im Schlechten ganz nach ihm. Und zeigt einmal mehr: Friedrich Merz und Zukunft – das hat keine Zukunft. 

AS

Mehr Beiträge rund um die CDU hier.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Friedrich Merz: Neue Zeit. Neue Verantwortung. Demokratie und Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert; 1. Auflage, November 2020; 240 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-430-21044-7; Econ Verlag; 22,00 €; auch als eBook erhältlich (18,99 €)

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