„Gehöre ich denn nicht ihm allein?“

Beitragsbild: Fotografie der Baumvielfalt am Box Hill in Surrey, England; darüber ein Filter der 70er-Jahre-sey macht // Foto: Flickr User barcar, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons

Hund, Sau, Sklave.“ So was mag Colin nicht. Beschimpft zu werden, das gibt ihm nichts. Das wollte er auch von Ray nicht. Doch äußert Colin keine Wünsche, genauso wenig wie dies Ray tat. Tun hätte müssen.

Adam Mars-Jones: Box Hill, Seite 39

Wer nun aber sind oder waren Colin und Ray? Colin wächst als Sohn von sich im wörtlichen Sinne auf Augenhöhe begegnenden Eltern in Surrey County, England, auf, wo er an seinem achtzehnten Geburtstag im Jahr 1975 am oder auf Box Hill über einen Ast und damit vor die lederbestiefelten Füße des etwas älteren Bikers Ray stolpert. Oder wie der 1,95 Meter große Ray, Anführer eines schwulen (?) Motorradclubs, mit seinen dicken, blonden Haaren immer sagte: „Colin ist nicht auf mich geflogen, Colin ist auf die Schnauze geflogen.“

Aufsatteln

So oder so sollte Colin damit nun für die kommenden sechs Jahre seinen Platz im Leben Rays kennen, der ihn zuerst an seinen Schwanz lässt, oder an diesen zwingt, später auf sein Motorrad, schließlich in sein Leben. Oder doch wenigstens in seine Wohnung. Jedenfalls an den meisten Tagen von 18:00 Uhr bis zum kommenden Morgen um neun Uhr. Denn, so vermittelt es uns der Ich-Erzähler Colin in Adam Mars-Jones‘ Roman Box Hill, vom Leben Rays wusste Colin im Grunde nichts.

Zu Beginn des schmalen Romans wissen wir Leser*innen nicht sofort, mit welchem Abstand der vormalige Gärtner, U-Bahnfahrer und schließlich Dozent Colin uns von der Beziehung berichtet. Wir erleben sie nur mit der Beschreibung der Flora Box Hills und eben dem Wurzelsturz beginnend. Schon hier immer gekonnt und nicht selten gar unauffällig zwischen Beschreibung und Fragestellung wechselnd. Von Exposition über Verwunderung zu Introspektion.

Durch diese Perspektiven, die Menge an detaillierten Beschreibungen des aktuell erinnerten Geschehens und einer möglichen Mystifizierung Rays, verfügen auch wir nur über das Wissen Colins. Oder jedenfalls jenes Wissens und Ahnens, das er mit uns zu teilen bereit ist. Letztlich haben wir uns nämlich ebenso auf seine Worte und deren Wahrhaftigkeit zu verlassen, wie er sich auf jene, wenigen, Rays. Auf dessen Hinweise, Anweisungen, Treue (derer sich Colin sicher war und ist), Schutz, Liebe, Wertschätzung.

Aufschauen

Doch wie viel Wertschätzung kann mensch von einer Person erwarten, deren „ganzer Lebensinhalt darin bestand, seinen Willen durchzusetzen“ oder darum, „die Welt in seinen Bann zu schlagen“? Wie es in diesem Roman von Adam Mars-Jones scheint eine ganze Menge. Jedenfalls dann, wenn zu diesem Willen auch eine gewisse Form geteilten Miteinanders mit einer anderen Person gehört. So abstrus diese für manche scheinen mag.

Denn natürlich ist diese Beziehung keine auf Augenhöhe. Dies nicht etwa ausschließlich oder vor allem aus dem Grunde, dass Colin (sexuell) ein Sub durch und durch und Ray ein vollkommen dominanter Typ ist/war. Ray is calling the shots. Seine Regeln werden befolgt, sonst erfährt Colin Strafen. (Die jedoch, wie dieser anmerkt, im Sinne seiner Vorlieben Belohnungen waren.) Fragen werden nicht gestellt Es wird genommen, was gegeben wird. Und sei es der Schwanz eines anderen Typen während einer der Pokerrunden Rays, die Colin nackt lesend auf dem Boden zubrachte und nur zu reden hatte, wenn Mann ihn ansprach.

Was wiederum nicht bedeutete, dass Mann oder mensch mit Colin umspringen konnte, wie es jenen nach dem Sinn oder Schwanz stand. Wie oben erwähnt: Ray schützte Colin. Zusätzlich ist Colin kein Freund von Überraschungen. Berechenbarkeit, und sei es die des regelmäßigen Stiefelleckens, bevor Ray zur üblichen Putzroutine überging. Hierin scheinen sich beide ähnlich: Gewöhnt an gewöhnliche Abläufe. Wenig Raum für Veränderungen, plötzliche Einfälle, zügige Umstellungen. Insofern ist das gegenseitige Eintreten in die Existenz des jeweils Anderen als großes Ausnahmeereignis zu werten.

Eindringen

Darüber hinaus allerdings passiert in Box Hill nicht wirklich viel. Was gegebenenfalls auch der Area entsprechen mag. Andererseits sind Kleinstädte und Co. gern Wurzel und Auswuchs vielerlei Übels… Selbstredend geschieht einiges im Leben von Mars-Jones‘ Protagonisten Colin. Von neuen, einschlägigen Erfahrungen, seien sie sexueller oder anderer Natur, über kleine bis mittelgroße Erkenntnisse, die den zurückhaltenden und zwar patzig denkenden, doch aber unsicher agierenden Autodidakten Lebenserfahrung bringen zu so manchem Schicksalsschlag.

Allein die Erzählform, der Ton, den Adam Mars-Jones für seinen SM-Und-Leder-Roman gewählt hat, mag für nicht wenige im Kontrast zum Thema stehen (und zum Cover, das jedenfalls in der deutschen im Albino Verlag erschienenen Ausgabe von einer Andreas Fux-Fotografie geprägt wird). Ein Ton übrigens, den Gregor Runge pointiert und wenn passend bestrickend ins Deutsche überträgt. Merklich etwa an einer Stelle, kurz nachdem Ray Colin „in Besitz genommen“ hat:

Seite 46

Zwei Drittel des Buches handeln im Großen und Ganzen von der Beziehung der beiden und von den Fragen, die Colin sich Jahre später nach dem Ende dieser so stellt. Das letzte Drittel behandelt vor allem das Nachspiel, die Folgen, das Danach. Das nicht weniger von Fragen durchzogen ist. Was wäre heute? Was würde Ray tun? Schwer ihn zu fragen, wenn Colin ihn doch nie wirklich kannte. Wie ein Mysterium ausquetschen?

Einnehmen

Mysteriös bleiben für uns beide Figuren, aus bereits weiter oben erwähnten Gründen. Speziell mögen auch die ambivalenten Gefühle sein, die die Lektüre Box Hills in (einzelnen) Leser*innen auszulösen in der Lage ist. Nicht alles fühlt sich richtig an. Nutzt Ray hier den, nun, schwachen Charakter Colins aus, der an mancher Stelle zumindest autistische Züge aufweist? Ist es ein nach Nähe gierender Colin, der einen nach einer anderen Form von Nähe suchenden Ray mit Unterwürfigkeit manipuliert?

Seite 119

Das wirklich Spannende an Box Hill sind manche Formulierungen, die Colin wählt, um seine Bedürfnisse oder viel eher Weiteres, das er nicht gewollt hätte, auch im sozialen und emotionalen Kontext, zu beschreiben. Das klingt nach sehr viel Bewusstsein des eigenen Selbst. Wohingegen wir, genau wie er, oft nur vermuten, was Ray gewollt oder eher gedacht haben kann. Gab es da also überhaupt ein Ungleichgewicht in der Beziehung? Und falls ja, in welche Richtung kippte es in Wirklichkeit?

Diese Fragen dürft ihr, liebe Leser*innen, euch bei der sehr und hart empfohlenen Lektüre des ruhig und doch rauschhaft erzählten, manches Mal derben, manches Mal süffisanten, nicht selten tragikomischen, an einigen Stellen brüllend komischen, kurz unheimlichen, durchgehend unheimlich guten Box Hill von Adam Mars-Jones selber stellen. Es ist eine eigenwillige Lektüre, die, neben allem Sexuellen, auch für uns Fragen von Anordnungen ins Bewusstsein rücken wird. Und möglicherweise mit einem erstaunten „Hm.“ feststellen lassen, dass uns die seltsamsten Dinge wichtig sein können.

AS

PS: Außerdem: Diverses Royale („naff“), Pferde, St Andrews und ein Tröpfchen Eifersucht.

PPS: Harry Melling und Alexander Skarsgard werden die Hauptrollen in der Verfilmung des Romans Box Hill spielen. Regie führen wird Harry Lighton. Der Film mit dem Titel Pillion (dt. etw. Soziussitz, Sattelkissen, aber auch Damensattel) wird das Langfilmdebut des jungen Regisseurs, der auch das adaptierte Drehbuch verfasst hat. Produziert wird von Element Pictures, wie ScreenDaily berichtete, vermarktet wird der Film von Cornerstone Films, die sich bereits im Sommer in Cannes anschickten, den Film an die Verleiher zu bringen.

Adam Mars-Jones: Box Hill; Aus dem Englischen von Gregor Runge; März 2024; 144 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN 978-3-86300-375-3; Albino Verlag; 24,00 €

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