Guter Rat ist teuer

Puh! Das war sie gestern also nun – die letzte der gern, wenn auch unschön, so genannten „Ost-Wahlen“ (übrigens schon ein Anwärter für das Unwort des Jahres). Oder einfach die letzte von drei Landtagswahlen in diesem Jahr. Nach Thüringen und Sachsen wurde gestern zum Herbstanfang in Brandenburg gewählt. Die Ansage von SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke, er werde als Ministerpräsident zurücktreten, sollte die SPD nicht stärkste Kraft werden (und somit also die rechtsextreme AfD), verfing und Demokratie-Freund*innen und Wähler*innen der demokratischen Mitte, rafften sich auf und wählten SPD.

Koalitionsschach?!

Ob dies letztlich dafür sorgte, dass Die Grünen nun an der Fünfprozenthürde gescheitert sind, sei dahingestellt. (Das erhoffte Direktmandat war nicht zu holen, lag dies doch im Wahlkreis der beliebten Wissenschafts- und Kulturministerin Manja Schüle, ebenfalls SPD.) Eingezogen in den Brandenburger Landtag sind nun also die SPD (30,9 %), die AfD (29,2 %), das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW, 13,5 %) sowie die CDU (12,1 %). Nach derzeitigem Stand wäre eine Koalition derzeit nur zwischen SPD und BSW möglich; alternativ eine Minderheitsregierung aus SPD und CDU (es fehlt ein Sitz zur Mehrheit).

Mag das BSW für viele ein rotes Tuch sein (für uns ist es im Grunde die AfD, nur von weiter links, aber ähnlich populistisch, russophil, antisemitisch und in Teilen rassistisch sowie anti-queert geprägt), könnte sich die Situation in Brandenburg theoretisch bequem gestalten. Der dortige Spitzenkandidat Robert Crumbach war vier Dekaden verdientes Mitglied der SPD, Referent der Brandenburger SPD-Landtagsfraktion sowie Justiziar im Arbeits- und Sozialministerium und habe, so wird kolportiert, einen guten Draht zu Dietmar Woidke.

Sitzverteilung im Brandenburger Landtag // © Landeswahlleiter Brandenburg/Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

So ließe sich das BSW also möglicherweise gut einbinden und einhegen, statt in einer Oppositionsrolle fundamentalistisch zu verhärten. Andererseits, so unsere Sorge, könnte eine Regierungsbeteiligung die Ego-Parteineugründung Wagenknechts, die durchaus nicht gerade das Beste ist, was einer Demokratie passieren kann, allzu salonfähig machen und für Aufwind im Bundestagswahlkampf 2025 sorgen. Andererseits könnte es für eine Minderheitsregierung aus SPD und CDU schwierig werden, wenn auf den Oppositionsbänken ausschließlich BSW und AfD sitzen – zwei populistische Parteien, denen das „Dagegen“ alles und das „Miteinander“ zuwider ist. Zumal die AfD nun über eine Sperrminorität bei allen Abstimmungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, verfügt. (Und was sie mit dieser machen will, hat sie bereits angekündigt. Etwa die Ernennung von Richter*innen und Co. blockieren, bis man ihnen Zustimmung für eigene Gesetzesvorhaben zusichere.)

Demokratie lernen

So ließe sich die Frage stellen: Wie verteidigen wir also unsere Demokratie? „Geht wählen!“ Ja, sicherlich. Nun taten dies gestern 72,9 Prozent der Brandenburger*innen – knapp 30 Prozent der Stimmen gingen an eine rechtsextreme Partei. Noch erschreckender daran: Unter den 16- bis 24-Jährigen entfielen 32 und unter den Erstwählenden 31 Prozent auf die AfD. Diese jungen Leute! Können die Demokratie nicht?! Ganz so einfach ist es nicht, wir kommen gleich kurz darauf zurück.

Verteilung Erststimmenmehrheit in Brandenburg; rot: SPD, blau: AfD // © Landeswahlleiter Brandenburg/Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

Lässt sich Demokratie eigentlich lernen? Sicherlich. Hierzulande erlernen wir sie im Prinzip während unseres Aufwachsens. Durch das Elternhaus, die Schule (wo mit der Wahl zu Klassen- und Schülersprecher*innen erste Wahlerfahrungen am eigenen Leib gesammelt werden können), an mancher Stelle im Internet sowie Fernsehen, Lesen hilft, usw. usf. Ein im Juli im C.H. Beck Verlag erschienenes, mittlerweile in dritter Auflage erhältliches Büchlein nimmt sich vor, in diesen demokratiekritischen Zeiten das Verständnis für den Wert der Demokratie zu erhöhen sowie die Verteidigung derselben zu erläutern.

An- oder Fehlleitung?

Der überzeugte Demokrat, Ex-Bundestagsabgeordnete und 2020 mit dem Goldenen Blogger ausgezeichnete CDU-Politiker Ruprecht Polenz (Jg. 1946) hat mit Tu was! Kurze Anleitung zur Verteidigung der Demokratie ein 100 Seiten knappes Büchlein vorgelegt, bei dem der Titel selbsterklärend ist. Der kurze Band besteht aus drei Teilen: Zunächst erläutert Polenz, was Demokratie bedeutet; im zweiten, was diese gefährdet und im dritten Teil gibt er den Leser*innen zwölf Tipps zum Engagement an die Hand.

Auf den ersten Seiten dachte ich, dass das Buch nicht als Kinderbuch geführt würde, sei ein Fehler und fühlte mich eine Runde lang verarscht. Das fängt sich allerdings etwa ab Seite 22 mit dem Unterkapitel „Demokratie ist Kontrolle und Mäßigung von Macht und Herrschaft“. Hier erläutert Polenz den Wert von Demokratien gegenüber Autokratien und Diktaturen und benennt Schlaglichter der Entwicklung von Demokratie sowie der Gewaltenteilung, wenn auch etwas random. Dennoch fällt in diesem Abschnitt auf, dass die treffendsten und klügsten Sätze jene sind, die Polenz zitiert. Wie etwa Karl Popper und dessen Toleranz-Paradoxon.

Jugend ist nicht gleich Mitte

Es geht um Pressefreiheit und Putin, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ein Fußballvergleich darf natürlich ebensowenig fehlen wie der Hinweis auf ein Wahlrecht ab 16 Jahren, „weil dadurch die Bedürfnisse jüngerer Menschen in den politischen Entscheidungen stärker berücksichtigt würden.“ Joar… Das wurde in Brandenburg getan und – siehe oben. 32 respektive 31 Prozent für die AfD in dieser Kohorte. Das könnte in Hamburg 2025 anders aussehen, bei der Bundestagswahl wäre ich mir da nicht so sicher. Etwas, das Ruprecht Polenz möglicherweise (!) nicht ausreichend berücksichtigt, ist, dass jene, die nun, ob 16 oder 18 Jahre jung, zu den Erstwählenden gehören, die AfD schon immer kennen. Für sie gehört diese rechte Partei quasi zum Establishment, sie waren (kleine) Kinder, als sie sich gründete. Drum treiben sich die AfDler ja so gern auf TikTok und Co. rum.

Ebenso ließ sich schon während der letzten Bundes- und Landtagswahlen nachvollziehen, dass junge Wähler*innen wieder vermehrt eher konservativ wählen. Die alte Mär von den jungen, wilden Alternativen im Sinne links-grün (heute mal ohne versifft) ist längst überholt und rettet sicherlich nicht die Demokratie. Wahr ist natürlich, wie Polenz es schreibt, dass wir ein Problem haben, wenn Menschen nicht mehr an die „vorgestellte Ordnung“ glauben, die unsere Demokratie nun einmal ist. Eben diesen Glauben, dieses Vertrauen zu zerstören ist Ziel der AfD: „Wir sollen unsere Überzeugung verlieren, dass wir mit dem demokratischen System die anstehenden Probleme am besten lösen können.“

Es ist ja nicht alles schlecht…

Mit diesem Satz geht es also in den Abschnitt zur Demokratiegefährdung, der zu den stärkeren von Tu was! gehört. (Übrigens seltsam: Im Titel werden wir geduzt, im Buch gesiezt. Überhaupt ist bei der Ansprache nie ganz klar, ob Ruprecht Polenz sich an junge Menschen wendet, die bisher womöglich nicht so viele Berührungspunkte mit der Politik hatten oder an ältere, die diese womöglich verloren haben. Auch dazu gleich mehr.)

Polenz bezieht sich auf den verstorbenen, republikanischen US-Politiker John McCain, wenn er sagt, dass hier nicht alles gut laufe, wir beim Klimaschutz und der Digitalisierung hinterherhingen, es also Fehlentwicklungen gäbe. Allerdings bedeute dies nicht, dass alles schlecht sei. Das stimmt, das kommt oft zu kurz. Nun vermute ich allerdings nicht, dass die Menschen sich der AfD zuwenden, weil sie meinen, dass politisch zu wenig für den Klimaschutz oder die Stärkung der Europäischen Union getan werde…

Demokratie nicht kaputtreden

Gute Punkte finden sich hier allerdings: Demokratie sollte nicht am Stammtisch kaputtgeredet werden, auch erläutert Polenz knapp und treffend, wie der Kreislauf von Propaganda und Fake News funktioniert und warum Fakten-Checks im Nachgang jene, die davor bei der Lüge schon heftig nickend vorm Bildschirm saßen, auch nicht mehr zurückholen. „Scheindemokratie“ und „Wir sind das Volk“ sind weitere Schlagworte. Nach seinen Einlassungen zu letzterem empfehlen wir ihm dringend die Lektüre von Susan Arndts ebenfalls bei C.H. Beck erschienenem Band Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD.

Apropos „Realitätserfahrung“ // Zitat aus Tu was!, S. 46, f.; Design: © the little queer review

Neben dem eben zitierten Wert von Sprache und der Möglichkeit, wie diese zu Zwecken der Manipulation genutzt werden kann, betont Polenz auch, dass Transparenz wichtig ist, was auch für die Medien und insbesondere die Arbeitsweise des ÖRR gelte. Sonst verfängt noch Steve Bannons „Flood-The-Zone-With-Shit“-Ansatz, den er wohl auch wählen wird, wenn er die AfD tatsächlich im Wahlkampf 2025 unterstützen würde.

Kein guter Ton

Zu guter Letzt nimmt er auch die Parteien in die „Verantwortung für das Streitklima in unserer Demokratie.“ Er stellt die Fragen, ob es hart in der Sache, aber mit gegensetitigem Respekt zugehe, der sich auch in der Sprache ausdrücke. Ob die Parteien für eine positive Agenda stünden oder ob „hemmungslos polarisiert und vor allem auf die Person des politischen Gegners gezielt“ würde, um diesen zu diskreditieren. Da denken wir doch direkt an die CSU, ihren Vorsitzenden Markus Söder und den Generalsekretär Martin Huber und deren ausgemachtes Feindbild Die Grünen.

Kürzlich polterte und stänkerte Huber fernab jeder soliden Gepflogenheit und menschlicher wie politischer Vernunft bei Markus Lanz gegen Anton Hofreiter und dessen Partei. Selbst als Hofreiter auf eine direkt auf Aussage Söders zurückzuführende Gefahrensituation zu sprechen kam, gab es beim Huber Martin kein Einlenken, nur neuerlich Vorwürfe. Und in der Berliner Runde gestern Abend hatte er nichts zu sagen, außer, dass die Ampel kaputt sei und widersprach ansonsten nur der Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Emily Büning. Dass er dies nicht auch noch tat, wenn sie nur atmete, erstaunte schon beinahe. Da gab es keine Unterschiede mehr zur AfD. Bitter, tragisch, abartig.

Ansteckende Zivilcourage und die Konsequenzen

Als Kern von Tu was! Dürfen wir wohl den Abschnitt bezeichnen, in dem es endlich mal ans „Einfach mal machen“ geht. Womit wir nun bei jenem Teil sind, der sicherlich wirklich gut gemeint ist, in Teilen aber schon beinahe eher eine Gefährdung für die aufgerufenen Personen darstellen könnte, als dass er die Demokratie festigt. Ja, Freiheit ist anstrengend und ja, wir „kämpfen“ um die Demokratie. Deswegen muss mensch nun allerdings nicht in jedes Risiko rennen.

Nun soll hier nicht jeder der zwölf Punkte Polenz‘ angesprochen werden, aber doch der eine oder andere. Los geht es mit der Aufforderung „Zeigen Sie Zivilcourage im Alltag!“ Sicher, gern! Hier nimmt Polenz das hypothetische Beispiel eines Arbeitskollegen, der in der Kantine behaupten könnte, alle Parteien seien gleichgeschaltet und nur die AfD sei eine wirkliche Opposition gegen die <<Altparteien>>, etc. pp. Nun, so Polenz, könnten Sie, also wir, also ihr, also du, eine Rückfrage stellen. Etwa, ob der Kollege ernsthaft meine, dass in der Sozialpolitik die FDP und die Linkspartei (hä, wer?) dieselbe Auffassung hätten. Ähnliches könne mensch bei rassistischen Bemerkungen während Kegelabenden (Polenz wendet sich also wohl doch an ein Publikum 60+) oder antisemitischen Anspielungen in Corona-Debatten unternehmen. Widerspruch sei richtig, sonst kommt beim nächsten Mal noch eine Schippe drauf. Stimmt schon.

Nun geht Polenz aber, wie er schreibt, davon aus, dass es von den anderen Kolleg*innen am Tisch in der Kantine Zustimmung für unsere Nachfrage geben wird. Woher weiß er das? Womöglich sitzen dort drei andere Personen, von denen eine schweigt und die anderen zwei sich gerade im Ortsverein der AfD engagieren. Womöglich werde ich mit meiner Nachfrage gleich mal zum Spitzel der SPD-nahen Geschäftsführung gemacht und zur Persona non grata. „Zivilcourage ist nämlich ansteckend“, schreibt Polenz. Wenn dem so ist, frage ich mich, wieso ich nach gut einer Woche noch mit den letzten Resten eines blauen Auges und einer Prellung durch die Gegend laufe.

<<Nein, das stimmt nicht>>

Im nächsten Schritt fordert der Politfluencer uns auf, doch selber politischer Influencer zu werden. In diesem vergleichsweise langen Abschnitt erklärt er, wie mensch peu a peu seine Wirksamkeit in den Sozialen Medien erhöhen könnte. Dazu erwähnt er auch, dass die Umgangsformen dort nicht immer fein seien, Kompromisse und Respekt zuweilen eine eher untergeordnete Rolle spielten. Neben seiner Forderung knackig zu posten, viel über Bilder und Symbole aka Symbolik zu arbeiten, was schon beinahe an einen Aufruf zum Populismus grenzt, wünscht er sich auch, dass wir den seriösen Medien folgen und mal einen Blick auf das CORRECTIV-Faktenforum werfen.

Bevor wir nun unsere digitale Einflussnahme gegen Rechtsextremismus mit eigenen Posts starten, empfiehlt der New-Born-Digital-Native uns, als dir, also euch, also Ihnen: „Lassen sie demokratiefeindliche Posts nicht unwidersprochen. Es hilft schon ein <<Nein, das stimmt nicht>>, damit sich die Unwahrheit, Corona sei nur so gefährlich wie eine Grippe, nicht ungestört festsetzen kann.“ (Wann hat er den Text denn geschrieben? Nach dem 7. Oktober 2023 machen sich Antisemitismus-Beispiele doch viel besser und einfacher: „Der Geld-Jude ist schuld!“)

Also erstens: Das stimmt nicht, Herr Polenz. Die Lüge würde sich weiter fortsetzen. Zweitens: Wenn nun ein armer, eher unbedarfter Mittsechziger sich den Mumm (Mut, nicht Bäh-Sekt) gönnt und das mal so kommentiert, darf er sich mit größerer Wahrscheinlichkeit auf ein Gewitter an Falschbehauptungen, Beleidigungen, Drohungen und Co. einstellen. „Systemhure“, „Wir wissen wo du wohnst, du Lügensau“, „Halt die Fresse, Assi-Opa“ und derlei Dinge, dürfte der fiktionale Mann wohl lesen. Und bestenfalls keinen Herzinfarkt erleiden. Wer sich im Hetz-Netz nicht so auskennt, sollte nicht einfach mal zum Start unter verbreitete Fake News kommentieren.

Drittens: Schon einmal etwas von Bots und Trolls gehört? Herrje.

Informationsvielfalt ist wichtig

Gut informiert zu sein ist, nun ja, immer gut (hier wird jeden Morgen der Deutschlandfunk gehört, diversen Nachrichtenportalen folgen wir, heute wird geschaut, politische Talkshows wie der Presseclub werden ebenso verfolgt wie Dokumentationen und Features, Podcasts, Interview-Formate, Sachbücher, … alles Alltag hier). Ruprecht Polenz adressiert seine Leser*innen nun und meint, sie sähen vermutlich jeden Abend die tagesschau oder das heute journal, hätten womöglich Tages- und/oder Wochenzeitungen abonniert.

Erneut also scheint es, als ob er auf ein eher gesetztes, bürgerliches Klientel abziele. Nun allerdings auch so, als würde er sich an ein gebildetes, informiertes und selbstständiges wenden. Was wiederum die Frage aufwirft, warum sein erster Teil in einfacher Sprache so klingt, als sei das eine Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung für, uhm, sagen wir mal, Viert- oder Fünftklässler*innen. Für wen ist dieses Buch?!? Ich wusste es auf Seite fünfzehn nicht und war, Spoiler Alert, zum Schluss auf Seite einhundert nicht schlauer.

Demonstrieren, ja. Sich gefährden, nein.

Jedenfalls informieren Sie sich nun nicht mehr nur für sich selbst, sondern „um mitzudiskutieren und anderen Orientierung anzubieten. „Demonstrieren Sie mit!“ ist eine weitere Forderung, der wir uns grundsätzlich anschließen. Die Proteste nach dem Bekanntwerden der CORRECTIV-Recherche zum Treffen rechter Funktionäre oder auch jene von Fridays for Future sind zu begrüßen. Nun zitiert Polenz Erich Kästner, so als Appell ans Gewissen, und kommt auf Bautzen zu sprechen. Dort setzen diverse Bürger*innen den regelmäßigen Nazi– und Pegida-Aufmärschen etwas entgegen. Gut so!

So etwas fordert Polenz nun auch von uns. Vergisst aber die Anfeindungen und Drohungen, die sich die gesellschaftlich positiv engagierten Bautzner ausgesetzt sehen. Sich mal ein Schild ins Fenster stellen ist nicht ungefährlich. Sicherlich lernt mensch Gleichgesinnte kennen, aber eben auch jene, die nachts mal einen Stein reinsegeln lassen oder bestenfalls „nur“ einen Böller in den Briefkasten werfen. Ich bin pro-israelisch, würde in meinem Wohnumfeld aber allein aus Selbstschutz keine Israelflagge nach außen sichtbar anbringen. Mit etwas Glück könnte ich anschließend noch gesund umziehen.

Augen auf bei der Vereinswahl!

Er wünscht sich, dass wir mit Gleichgesinnten etwas auf die Beine stellen oder uns in NGOs, Vereinen etc. engagieren, wie auch in der Nachbarschaft und Gemeinde oder auch einfach durch Spenden. All dem ist zuzustimmen. Wobei ich anmerken möchte, dass es mir Sorge bereitet, wie bereitwillig „die Politik“, ob nun via Bund, Land oder Kommunen die Gelder für Vereine, gemeinnützige Einrichtungen und Kultur kürzt. (Claudia Roth sorgt als Beauftragte für Kultur und Medien mal eben dafür, dass es schwieriger werden wird, übersetzte Bücher auf den Markt zu bringen. Auch das hat etwas mit Bildung und Teilhabe sowie Demokratieförderung zu tun.) Außerdem sei angeraten, sich über die Werte von NGOs zu informieren. So hat etwa Amnesty International bei allem Guten, was sie ausrichten, ein sehr schwieriges Verhältnis zu Israel wie zum Judentum im Allgemeinen.

In einem der letzten Punkte wünscht Polenz sich: „Treten Sie in eine Partei ein!“ Der Wunsch mag nachvollziehbar sein, sind laut einer von ihm zitierten Umfrage (die Quellendichte ist übrigens hoch und verweist durchaus auf interessante Publikationen – und viele Beiträge der politischen Illustrierten Spiegel) doch „nur etwas mehr als eine Million Menschen Mitglieder einer Partei.“ Das seien viel zu wenig. Word. Nun möchte Ruprecht Polenz natürlich nicht nur, dass wir eintreten, sondern uns auch engagieren.

Parteigänger*in werden?!?

Da stoßen wir auf das Problem, dass Parteien, sonstigen Vereinen nicht unähnlich, vor allem an der Basis eher verkrustet sind. Hier denken wir nun vor allem an jüngere Menschen (und ziehen eigene Erfahrungen heran). Ein „Das-Machen-Wir-So-Weil-Haben-Wir-Schon-Immer-So-Gemacht“ ist nicht selten. Ebenso wird streng auf Proporz und Reihenfolge geachtet. Der Herbert, dem haben wir das vor sieben Jahren versprochen, also macht der das in drei! Stell dich mal hinten an und melde dich, wenn du was zu sagen hast. Außerdem hör auf, mir nachts um 21:32 Uhr E-Mails zu schreiben!

Will sagen: Der Charme des Engagements in einer Partei ist zunächst einmal so verlockend wie eine Gallenoperation. Hierzu schreibt auch Livia Gerster einiges und zitiert diverse Jungpolitiker*innen in ihrem eindrücklichen Buch Die Neuen (Überraschung: auch C.H. Beck, wir empfehlen Ruprecht Polenz also mehr Beck-Lektüre vor der nächsten eigenen Publikation. Nicht immer nur auf X, Threads und TikTok, rumtreiben! Diese Pensionäre!)

Am Ende wünscht der engagierte ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag (2005 – 2013) sich, dass wir uns mehr bedanken. Ob bei Kommunalpolitiker*innen, Sanitäter*innen und der Feuerwehr. Klar, warum nicht.

Vorsprung durch Demokratie

Den durchaus eingängigen Schluss bildet ein Kurzkapitel mit dem Titel „Die Zukunft demokratisch meistern“. Hier hebt er noch einmal hervor, was Demokratien von Autokratien unterscheidet, betont den Wert der (individuellen) Freiheit, von fairem Wettbewerb, sozialem Ausgleich und fairen Kompromissen. Auch dass Demokratien „autoritären System weit überlegen“ seien, weil sie anpassungsfähiger sind, stimmt. Ebenso ist es korrekt, dass sie schneller lernen als Diktaturen, das gewährleisten schon allein die Wissenschafts- und Pressefreiheit. Hey. Nordkorea!

So schreibt Ruprecht Polenz mitnichten Murks, dennoch wirken die eher per Zufallsgenerator ausgewählt scheinenden, sicherlich nicht wenigen bekannten Informationen in seiner Engagement-Handreichung irgendwie… verloren. Was daran liegen mag, dass schlicht nicht klar ist, an wen sich der gute Mann sich mit Tu was! denn nun wendet. Die Art, wie er die Leser*innen adressiert, schwankt so stark, dass das Jede*r und Keine*r sein könnte. Und wer für alle offen ist, ist eben auch schnell beliebig, schwammig.

Da geht mehr

In diesem Zusammenhang überrascht auch die sehr positive Rezeption dieses Büchleins, das, erneut, sicherlich gut gemeint aber alles andere als gut gemacht ist. Es fehlen vor allem bei den 12 Hinweisen zu mehr Engagement wesentliche Punkte, die den Menschen mit an die Hand gegeben werden sollten. Das grenzt an Verantwortungslosigkeit und ist nicht selten von bräsiger Realitätsfremde geprägt.

Sicherlich bringen einen die „Man-Müsste-Mal“-Sager nicht weiter, das stellen sowohl Ruprecht Polenz als auch die erwähnte Susan Arndt fest und auch wir sehen das so. Doch mit diesem Leitfaden etwas zu tun, landet mensch schlimmstenfalls im Krankenhaus. Dann hoffentlich mit sinnstiftenderer Lektüre als dieser. Der C.H. Beck Verlag hat da einiges im Programm.

AS

PS: Heute Abend wird es bei hart aber fair natürlich um die Wahl in Brandenburg und deren Folgen gehen. Mit dabei: Sahra Wagenknecht, die sich gestern Abend auf ihrer Wahlparty aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen ließ (sie hatte keinen Bock, oder?!), sowie Juli Zeh, der Vorzeige-Wahlbrandenburgerin und klassischen Ost-Erklärerin aus Bonn, deren Richterinnen-Tage demnächst wohl gezählt sein dürften.

PPS: Next Up from Beck: Markus Thielemanns Von Norden rollt ein Donner, der, verdient, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 steht. Hier findet ihr einen Beitrag zur Longlist.

PPPS: Am kommenden Sonntag wird im flutgebeutelten Österreich gewählt – auch dazu lest ihr in den kommenden Tagen was. Kickliki, sagen wir mal.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Ruprecht Polenz: Tu was! Kurze Anleitung zur Verteidigung der Demokratie; Juli 2024; 108 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-406-82398-5; C.H. Beck Verlag; 12,00 €

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