Gerade einmal um die zehn Tage ist es her, dass sich der amtierende US-Präsident Joe Biden aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2024 zurückgezogen und seine für nicht wenige zweifelhafte Wiederwahl verunmöglicht hat. Zeitgleich mit seinem Rückzug empfahl er seine Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin der Demokratischen Partei aufzustellen. Sollte Harris, die zuvor unter anderem Justizministerin und Generalstaatsanwältin Kaliforniens war, bevor sie den Staat von 2017 bis 2021 im Senat vertrat, tatsächlich die Wahl gewinnen, wäre sie die erste Schwarze, asiatischstämmige Präsidentin der Vereinigten Staaten.
Immer eine der Ersten
Sie wäre mal wieder die Erste. Gleiches galt für die oben genannten Positionen. Gläserne Decken zu durchbrechen – das scheint beinahe ein Motto des Lebens der am 20. Oktober 1964 geborenen Juristin zu sein, die als Tochter der aus Indien nach Amerika emigrierten Brustkrebsforscherin Shyamala Gopalan und des ebenfalls immigrierten Wirtschaftswissenschaftlers jamaikanischer Abstammung, Donald J. Harris, eine sogenannte >>First Generation American<<, also eine direkte Nachfahrin von Einwanderin ist.
So nachzulesen im im Herbst 2021 im Suhrkamp Verlag erschienenen Band Kamala Harris – Ein Porträt der (zum damaligen Zeitpunkt) NZZ-Silicon-Valley-Korrespondentin Marie-Astrid Langer, die „den wechselhaften Aufstieg der US-Vizepräsidentin publizistisch aus nächster Nähe“ begleitete. Dem kurzweiligen und mit um die zweihundert Seiten kompakten Band ist eine gewisse Nähe durchaus anzumerken, wie wohl auch Sympathie. Was jedoch mitnichten bedeutet, dass Langer eine kritische Distanz fehlen würde. Ganz und gar nicht, dieses Porträt ist keine Hagiografie.
Vielstimmiges Porträt
Die sieben von Prolog und Nachwort eingerahmten Kapitel werfen chronologisch angeordnet und wie aus der Vogelperspektive einen Blick auf das Aufwachsen Harris‘, den persönlichen und politischen Werdegang, dabei immer einen Fokus auf die zu früh und ausgerechnet an Krebs gestorbene Mutter, die Harris damals wie heute häufig in Reden erwähnt und zitiert.
Auch Langer zitiert viel in ihrem Porträt. Teils aus Harris‘ Autobiografie Der Wahrheit verpflichtet, die 2019 veröffentlicht wurde und klar machte, dass die Senatorin sich um die Präsidentschaft bewerben würde – „[s]chließlich ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Präsidenschaftskandidat sich zunächst mit seiner Biografie dem amerikanischen Volk vorstellt.“ (Etwa auch der derzeitige Verkehrsminister Pete Buttigieg mit Shortest Way Home, der in Langers Buch häufiger erwähnt wird und aktuell als potenzieller Running Mate, also Vizepräsidentenkandidat, an Harris‘ Seite gehandelt wird.)
Ebenso häufig auch aus Zeitungsbeiträgen, diversen Interviews sowie eigenen Gesprächen mit teils ehemaligen Mitarbeiter*innen und Bekannten oder ihrer guten Freundin Debbie Mesloh, dank der wir wissen, dass Harris‘ Ehemann Doug Emhoff das Kabelfernsehen kappte, nachdem seine Frau offiziell als Joe Bidens Running Mate ausgewählt wurde. Übrigens wurde auch diese Mitteilung auf Video festgehalten, genau wie nun die telefonische Unterstützungsbekundung von Ex-POTUS Barack Obama und Gattin Michelle (die ironischerweise nicht wenige gern als Kandidatin gesehen hätten).
Opportunistin Kamala Harris?
Einige Ereignisse und Problemstellungen im Werdegang der Frau, die gern und, wie der Autor dieser Zeilen meint, authentisch und ansteckend lacht, hebt Langer in ihrem Porträt hervor. Dabei taucht auch immer wieder die Frage auf, wie opportunistisch Kamala Harris womöglich agieren mag. Plante sie ihre Kandidatur Jahre, ja gar Jahrzehnte im Voraus? House of Kamala? Manche sagen so, andere so. Dass sie ambitioniert ist, ist wohl wahr. Doch macht sie das nun nicht direkt zur Opportunistin, die Macht um der Macht willen anstrebt.
Ihr Veränderungswille scheint glaubhaft. Setzt sie sich doch sehr für Reformen ein, versteht es, Probleme zu benennen und diese auch durchaus anzupacken. Dass dies wiederum nicht immer von Erfolg geprägt ist, ist nachvollziehbar – wir alle dürften das kennen. So wirkt manche Kritik an ihr, vor allem aus den Reihen der Demokraten, einigermaßen wohlfeil. Dessen unbenommen hat sie, als sie noch Anklägerin in San Francisco und später Justizministerin Kaliforniens war, durchaus Positionen bezogen, die zweifelhaft waren und sind, was Langer in ihrem Porträt auch schildert.
Sei es jene zu Marihuana, dem Vorgehen, Eltern von Schule schwänzenden Kindern strafrechtlich zu verfolgen und auch schon einmal wegzusperren oder sich zwar gegen die Todesstrafe auszusprechen, nicht aber gegen diese zu argumentieren. Letzteres mit der Begründung, als General Attorney könne sie nicht gegen die Gesetze ihres Staates argumentieren. Genau dies tat sie allerdings, als es um die Durchsetzung und Aufrechterhaltung der gleichgeschlechtlichen Ehe ging, die Rechte queerer Menschen sind ihr seit jeher ein wichtiges Anliegen. Das wirkt natürlich so, als würde sie sich ihre Vorkämpferthemen durchaus nach größtmöglicher Wirkung und geringstem Widerstand aussuchen. Bei der Ehe positionierte sich der große Teil der Kalifornier*innen für eine Öffnung, bei der Todesstrafe war’s mehr ein Patt.
Veränderung kommunizieren
Auch galt und gilt sie vielen, vor allem People of Colour, nach wie vor als Vertreterin einer harten Law-and-Order-Politik, als die sie sich zu Beginn ihrer politischen Karriere vor etwa zwanzig Jahren gerierte. Nun hat sich, so auch Marie-Astrid Langer, in zwei Dekaden in der Gesellschaft sehr viel getan und dies, wohl nicht nur gefühlt, in größeren und schnelleren Schritten, als in manchen Jahrzehnten zuvor. So ändern sich auch Haltungen und verändern sich Menschen, das muss auch einer Kamala Harris zugestanden werden.
Schwerer wiegt da schon, dass es ihr selber schwer zu fallen scheint, Fehler anzuerkennen und für diese einzustehen. Eher scheint sie bemüht, Positionen einerseits so still aber doch augenscheinlich wie möglich anzupassen und wirkt fahrig, wenn sie darauf angesprochen wird. Selten hören wir Harris sagen: „Damals war das so, ich sah das so. Heute bin ich und ist die Welt eine andere, ich bin gewachsen und sehe das nun so und so…“ Selbst in den gespaltenen USA, aber welche Nation ist das gerade nicht irgendwie, sollte das nicht zu ihrem Aus führen.
Anfeindungen deluxe
Wie gut sie deutliche Worte zu finden weiß, daran werden wir immer wieder erinnert in diesem gut strukturierten Porträt Langers. Beispielsweise als es um die Befragungen der von Donald Trump gewünschten (und von einem erzkonservativen, ultralibertären Think Tank ausgewählten), hart konservativen Supreme Court Judges Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh sowie Amy Coney Barrett geht. (Letztere nominiert und ernannt kurz vor der Wahl 2020, nachdem die legendäre Ruth Bader Ginsburg verstorben war.) Teile davon sind nicht ohne Grund viral gegangen und dürfen lange als durchaus tragisch-unterhaltsame Sternstunden nicht nur von Senatsanhörugen gelten.
Zudem wird sie bei allem politischen Streit auch von politischen Gegner*innen geschätzt. Dass dies nun wenig gilt, erfahren wir in den letzten Tagen, seit sie als designierte Präsidentschaftskandidatin gesetzt ist. Trump, sein arg homofeindlicher, misogyner und den eigenen Werdegang flexibel anpassender Vize-Anwärter J. D. Vance und weitere bemühen sich nun, sie zum schlimmsten Debakel auf zwei Beinen zu erklären, schrecken dabei vor ekelhaften Tiefschlägen nicht zurück. Erst gestern sprach Trump vor der nationalen Vereinigung Schwarzer Journalisten darüber, dass sie immer mit ihrer indischen Abstammung „geworben“ habe und nun plötzlich wolle sie auch „als Schwarze bekannt sein.“ Das ist so unwahr wie widerlich.
Sie selber spricht recht wenig über die Anfeidungen gegen sich – seien es solche, die sie als Politikerin, Frau, Schwarze, Asiatischstämmige, „First Generation American“, oder, oder, oder erfahren haben mag. Sie entschließt sich lieber zu kämpfen. So sagte sie es in ihrer aus dem Stegreif gehaltenen Rede, nachdem sie die Senatswahl gewonnen hatte, sich aber abzeichnete, dass womöglich nicht Hillary Clinton sondern Donald Trump die Präsidentschaftswahl 2016 für sich entscheiden könnte.
Alles ist offen
Das wird sie auch nun tun – allein bis jetzt sind 200 Millionen US-Dollar an Wahlkampfspenden eingenommen worden, davon zwei Drittel von Erstspendern. Von heute bis Montag läuft die digitale Nominierungsabstimmung der Delegierten der Demokraten. Es scheint, dass bereits 99 Prozent dies bejaht hätten. Anfang kommender Woche, heißt es aus ihrem Umfeld, wolle sie sich zu ihrem Vizepräsidenschaftskandidaten äußern, diverse Namen kursieren, neben Pete Buttigiegs auch jene der Gouverneure Andy Beshear aus Kentucky und Josh Shapiro aus Pennsylvania, und schon am Dienstag wolle man gemeinsam durch die Swing States touren.
Alles ist offen. In diesem Sinne sollen diese Gedanken zum lesenswerten Überblicks-Porträt von Marie-Astrid Langer mit dem in diesem zitierten Republikanischen Senator aus South Carolina, Lindsey Graham, geschlossen werden, der sich wie folgt über Kamala Harris äußerte: „[…] ich denke, sie ist sehr klug und hat Charakterstärke. Jeder, der sie unterschätzt, tut das auf sein eigenes Risiko.“
AS
PS: Zu RBG – Die Juristin und Sachbuchautorin Nora Markard hat ihrem Co-Autoren (Jura Not Alone, Rezension in Kürze) Ronen Steinke aus den USA diese feine, kleine und bestimmte Figur mitgebracht…

Eine Leseprobe findet ihr hier.
Marie-Astrid Langer: Kamala Harris – Ein Porträt; September 2021; 221 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-518-47212-5; Suhrkamp Taschenbuch; 16,00 €
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