Immer wieder Österreich zuerst mit der Dritten Republik?

Beitragsbild: Das Buchcover auf einer Fotografie, die ein mitgenommenes Wahlplakat Herbert Kickls in den Fluten in Niederösterreich zeigt // Hintergrundfoto via X (https://x.com/FranzEssl1/status/1835331944495620459/photo/2)

„Duell um Wien“ „Duell um Österreich“, „Daham statt Islam“, „Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe“ oder „Wir geben EUCH zurück, was sie EUCH nehmen“ – dies nur eine kleine Auswahl von Sprüchen auf Plakaten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), für die ein gewisser Herbert Kickl verantwortlich zeichnet. Seines Zeichens seit Juni 2021, nach diversen anderen Posten innerhalb der Partei, deren Bundesparteiobmann, also Parteivorsitzender.

Atemloses Kopf-an-Kopf-Rennen

Und Spitzenkandidat der FPÖ Niederösterreich bei den an diesem Sonntag im fluterschütterten Nachbarland stattfindenden Nationalratswahlen. Laut einer Umfrage des österreichischen Instituts für Demoskopie und Datenanalyse vom 22. September 2024 stehen Kickl und seine FPÖ bei 27 %, die ÖVP von Kanzler Karl Nehammer bei 25 % und die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und deren Spitzenkandidat Andreas Babler bei 21 %. Die Grünen und die liberalen NEOS jeweils bei 9 %. Die Zahlen sehen in Umfragen anderer Institute aus den Tagen zuvor ähnlich bis gleich aus.

So zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Einig scheinen sich die demokratischen Parteien Österreichs, nicht – erneut – mit der zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus changierenden FPÖ koalieren zu wollen. Allein fehlt manchen das Vertrauen, dass die ÖVP nicht doch kippt, so lange man sich darauf einigen könnte, dass Herbert Kickl nicht Kanzler würde. Aber wenn doch die FPÖ die Mehrheit hätte? Was würde in Österreich geschehen, wenn der 1968 in Villach geborene, in der Erdmannsiedlung in Radenthein als Einzelkind in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Hegel-Fan Herbert Kickl Bundeskanzler würde?

Verstrickte Biografie eines Rechten

Dieser Frage gehen die beiden profil-Journalisten Gernot Bauer und Robert Treichler in ihrem faszinierend tiefgehenden, die Geschichte, Biografie und Verstrickungen nicht nur Kickls, sondern in Teilen auch der FPÖ ausführenden und aufarbeitenden Buches Kickl – und die Zerstörung Europas nach, das im Frühjahr im Zsolnay Verlag erschienen ist.. Konkret machen sie dies in ihrem Schlusskapitel „Dritte Republik“, in dem sie skizzieren, wie der rechtsextreme Politiker sich an seinem Vorbild Viktor Orbán ausrichtend, versuchen würde, ein abgeschottetes, autokratisches, ausländerfeindliches Österreich zu bilden.

Zwar dürfte ihm das ungleich schwerer fallen, als dem ungarischen Freund aller Möchtegern-Autokraten und -Diktatoren, da Kickl im Gegensatz zu Orbán nicht mit absoluter Mehrheit regieren würde. Durchsetzbar wären doch einige Dinge und dass Kickl es in Kauf nähme, europäisches Recht zu brechen, steht sicherlich für kaum jemanden in Zweifel. „In Brüssel fühle man sich wie in einem >>Moralisierer-Klub, aber nicht in der Wirklichkeit<<“, so Kickl. Allein schon, dass er nach wie vor die Meinung, die er einmal in einem ORFInterview zu Protokoll gab, vertreten dürfte, dass „das Recht der Politik zu folgen habe, und nicht die Politik dem Recht“ spricht Bände. Und sei ernst zu nehmen, wie Bauer und Treichler schreiben. Kickls Einlassung, das muss mensch sich mal vorstellen, widersprach sogar die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel… Alice Weidel!

Der gelangweilte Nichtskönner und Pferdefreund

Bevor die zwei versierten Journalisten allerdings ihr erschreckend naheliegendes Fazit ziehen, behandeln sie in elf Kapiteln mit so herrlichen Titeln wie „Der talentierte Nichtskönner“, „Der Meister und sein Schüler“, „Der Einzelgänger“, „Der Pferdefreund“ oder „Der Krisengewinnler“ den Werdegang des möglichen „Volkskanzlers“ (sie erläutern auch, wie dieser Begriff in die Welt kam).

Dabei kann den beiden Autoren nur gedankt werden, dass sie uns zwar wissen lassen, woher Herbert Kickl kommt, wie er sozialisiert wurde, dass er auch als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener schon eher in die Kategorie Einzelgänger fiel – dafür aber die wenigen engen Freund*innen von damals auch heute noch zu diesen zählen – und zwar sehr intelligent, aber auch schnell gelangweilt von allzu Theoretischem ist und zumindest früher nicht dazu neigte, die Dinge zu Ende zu bringen. Wie etwa sein Studium.

Argwöhnischer Eigenbrötler

Dies alles vermitteln sie zackig und kompetent (wenn ihnen in der ersten Auflage auch ein Fehler unterlaufen ist; mehr dazu auf der Zsolnay-Buchseite unter „Erratum“). Wie Kickls Eigenbrötlerei sich nach und nach und kongruent mit seinem Aufstieg zu einem massiven Misstrauen und Argwohn auswächst, der mitunter abstruse Züge annimmt und in dem sich Kickl durch passendes Zurechtlegen der Umstände immer wieder bestätigt sieht, beschreiben die beiden Journalisten so fesselnd wie auch Kickls Auseinandersetzung und quasi „Erstürmung“ des Verfassungsschutzes in seiner Zeit als Innenminister.

Übrigens sei er mittlerweile stolz darauf, der erste und bisher einzige Minister Österreichs gewesen zu sein, der von Kanzler (dem Kurz Basti) und Bundespräsident (Alexander van der Bellen) abberufen worden ist. Wenn schon keinen Studienabschluss an der Wand, dann doch wenigstens den Ministerabschuss, was?! Selbstredend wird auch ausführlich das Wachsen und Werden an der Seite Jörg Haiders, den die Autoren als Vater des „Rechtspopulismus, wie man ihn heute in Europa versteht“ ausmachen, beschrieben und wie Herbert Kickl nicht zuletzt durch den 2008 tödlich verunglückten FPÖ-Spitzenmann perfektionierte, gleichzeitig rechts wie links sein zu können. Ist das nur unser Eindruck oder hat sich das BSW hier zumindest „inhaltlich“ etwas abgeschaut?

We’re destroying ourselves in Ibiza… 🥤🎵

Ibiza, Heinz-Christian Strache (damals Vizekanzler) und Johann Gudenus (damals Nationalratsabgeordneter und geschäftsführender FPÖ-Klubobmann) finden natürlich statt. Zuerst in einem verheißungsvollen Ton. Schließlich, als sich das Ereignis der Enthüllung am 18. Mai 2019 Bahn bricht, minutiös beschrieben, wie jener Nachmittag zu dieser „b’soffenen G’schicht“ ablief, an dem Kanzler Kurz seinen Kanzleramtsminister Gernot Blümel beim Herbert Kickl anrufen ließ (Kurz: „Ich nicht. Bitte, ruf du ihn an), um diesen über das Ende der Koalition zu informieren. Der kochte wohl ordentlich. (In diesen Tagen weilte ich übrigens in einer bayerischen Gemeinde nah der österreichischen Grenze und hatte in der Tat überlegt mal eben rüberzufahren, hab es dann aber gelassen.)

Doch wie schreiben Gernot Bauer und Robert Treichler auf Seite 240 über Kickl: „Opferrolle samt Empörungsgestus stehen ihm gut.“ Empört war er auch, als seine berittene Polizeibrigade wieder eingestellt wurde. Hübsch war sie doch und sollte ein gutes, positives Bild vermitteln. Zugegeben, hätte mensch das solider ausgeführt, wäre da gegebenenfalls etwas dran gewesen. Eventuell waren sich die Wiener*innen hier einfach recht schnell einig, das lächerlich finden zu wollen.

Wider den woken System-Eliten und ihrem „Bevölkerungsaustausch“!

So ist es in der Tat nicht unwahr, dass rechtspopulistische Politiker*innen es nicht leicht mit den urban lebenden Bürger*innen und „den“ Medien haben. Sich eigene Sprachrohre aufzubauen, erstaunt da kaum, ergibt Sinn. Dass dies dennoch nicht zu einem Rückbau der so genannten „Systemmedien“ führen sollte, ist klar. Dass Herbert Kickl eine Vereinnahmung des staatlichen Rundfunks plant, ebenso (es brauche einen „verschlankten Grundfunk und keinen aufgeblähten Rundfunk“). Freie Meinungsäußerung also nur so lange, wie sie dem eigenen Dünkel dient.

Das Autoren-Duo geht in dem flüssig verfassten Buch wiederholt und dezidiert darauf ein, wie wichtig Sprache ist, wie sehr Kickl weiß diese einzusetzen. Wie er mal im Ungefähren bleibt, dann deutlich wird, sich (bis auf wenigste Ausnahmen) nie für eine Äußerung entschuldigt oder sie zurücknimmt. Wie er Emotion nutzt, so dass keine Vernunft mehr durchdringen kann. Wie „Bevölkerungsaustausch“ und der „Great Reset“ eines seiner besten Assets sind. Wie er gegen „das System“, „die Eliten“, „den woken Genderwahn“, „die Klimakommunisten“ zetert und wettert und damit alle abholt, die sich in irgendeiner Weise nicht gesehen und verstanden, ja unterdrückt fühlen. Von Russlandverklärer*innen einmal gar nicht zu sprechen

Absage an den Klassismus?!

Jene, die den Job verloren haben; jene Mittelschichtler, die nicht verstehen, warum das binäre Mann-Frau-Kind-Schema angeblich nichts mehr wert sei; jene Bildungsbürger*innen, die mit jedem Genderstern einen kleinen Tod zu sterben meinen; jene, die glauben Covid käme von den „brunnenvergiftenden Juden“; … all diese Menschen fängt Kickl, fangen die Rechtspopulisten und –propagandisten Europas sowie ein Donald Trump in den USA auf und ein. Das, so Bauer und Treichler, sei auch etwas Neues: Hier kommen Menschen in ihrer teils obskuren Wut zusammen, die sonst nie etwas Verbindendes hätten. So gesehen ist im Rechtspopulismus der Klassismus aufgehoben. Voll woke, ey.

Dass die FPÖ (heute) mitnichten „freiheitlich“ und „liberal“ ist, legen Bauer und Treichler ebenso dar, wie sie beschreiben, dass die Partei schon immer eine elitäre war, von „Ex-Nazis für Ex-Nazis“ geschaffen. Womit sie eine Sonderstellung unter den „jungen“ rechten Parteien, die sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa gründeten, eingenommen habe. Darüber hinaus beschreiben sie, wie die heutige FPÖ entstehen konnte und was dies mit neu ausgerichteten rechten, rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien und Politiker*innen wie Marine Le Pen, Matteo Salvini, Giorgia Meloni, Geert Wilders oder eben Alice Weidel zu tun hat – und damit, dass sie alle und ihre Parteien (vermeintlich) dem Antisemitismus abgeschworen haben. (Dazu darf allerdings gesagt werden, dass eine Marine Le Pen oder ein Geert Wilders in der Tat selber nicht durch antisemitische Einlassungen aufgefallen wären. Kickl im Gegenteil schon.)

Umwälzungen und keinerlei Entspannung

Es sei die „vielleicht größte politische Umwälzung auf dem Kontinent seit dem Ende des Kalten Krieges“ in vollem Gange, befinden die Autoren zum Abschluss ihres Buches und dem ist, leider, nur zuzustimmen. Woraus, so meine ich, nun nicht der Schluss gezogen werden sollte, dass bereits so lange an der Uhr gedreht worden wäre, dass nichts mehr zu ändern ist. Engagement für eine wache und funktionierende Demokratie muss sein – ein Blick in den Thüringer Landtag am gestrigen Donnerstag reicht aus, um zu sehen, wohin wir mit einer AfD hierzulande kämen. Das sähe in Österreich mit einem „Volkskanzler“ Kickl und der FPÖ an der Macht nicht anders aus.

So ist Kickl – und die Zerstörung Europas als Biografie ebenso tauglich wie als Mahnung, nicht in Lethargie zu verfallen oder die Hände in die Luft zu werfen, weil – wird so schlimm schon nicht werden. Könnte es, würde es. Panik muss nicht sein, Entspannung allerdings ist auch nicht angesagt. Sorry.

AS

Gernot Bauer, Robert Treichler: Kickl – und die Zerstörung Europas; April 2024; 256 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-552-07503-0; Zsolnay Verlag; 25,00 €

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