Der Tod ist integraler Bestandteil des Lebens. Nur durch ihn, die Tatsache, dass wahrlich niemand ihm entrinnen kann, hat das Leben erst einen Wert. Gäbe es ihn nicht, hätten wir unbegrenzt Zeit und keine Veranlassung, irgendetwas mit unserem Leben anzufangen. Ja, das mag pathetisch sein, aber es ist dennoch wahr.
Werden wir daher pragmatisch: Der Tod ist für den oder die Betroffene*n eigentlich erst einmal nichts Besonderes. Diejenigen, die religiös sind oder an ein Leben nach dem Tod glauben, für die ist der Tod nur der Beginn eines neuen Abschnitts. Und diejenigen, die daran nicht glauben, für die ist es eben einfach das Ende. Tut danach auch nicht mehr weh.
Etwas sehr Individuelles
Viel komplexer ist dies für die Hinterbliebenen: Familie, Freundinnen und Freunde, Bekannte. Für diese gesellt sich zu diesem Tod noch ein weiteres Gefühl: Trauer. Und der Umgang mit dieser Trauer ist eines der individuellsten Erlebnisse, die mensch haben kann. Manchen fällt das Trauern leichter, anderen schwerer.
Von diesem Trauern und der Verarbeitung der Begegnung mit dem Tod erzählt Jasmin Schreibers Marianengraben, das 2020 bei Eichborn erschienen und auch als Taschenbuch erhältlich ist. Gleich auf mehreren Ebenen wird in diesem Roman getrauert, auf jeder zwar für sich, aber trotzdem greifen sie alle ineinander.
Unerledigte Dinge
Protagonistin dieses Romans ist die Doktorandin Paula, die ihren kleinen Bruder Tim verloren hat. Das Abschiednehmen fällt ihr schwer, sie macht sich Vorwürfe, dass sie ihren Bruder nicht beschützt hat. So etwas tun große Schwestern doch vermeintlich… Jedenfalls bricht sie des Nachts auf dem Friedhof ein, um ihrer Trauer Raum zu geben und trifft dort auf den rüstigen Rentner Helmut, der ebenfalls unerledigte Dinge zu erledigen hat.
Dieser nämlich hatte seiner Helga versprochen, dass sie noch einmal in ihre Heimat nach Südtirol fahren – die heimlichen Planungen liefen bereits. Doch die böse Helga hat nichts Besseres zu tun, als zu früh zu sterben. Sauerei! Helmut macht daher, was er eben so macht: Er exhumiert Helgas Asche, um gemeinsam mit ihr diese letzte Reise anzutreten. Paula wird unfreiwillig in diese Angelegenheit hineingezogen und begleitet Helmut, Helga und Hündin Judy auf diesem merkwürdigen Roadtrip in die Alpen.
Trauer und Humor?
Trauer ist – wie bereits eingangs beschrieben – eine höchst individuelle Angelegenheit. Und ja, natürlich stellt sich die Frage, ob mensch so ein ernstes Thema mit Humor verknüpfen darf. Ich meine: Ja, darf oder soll mensch sogar. Der Verlust eines geliebten Menschen, vielleicht sogar die (oft unbegründete) Selbstzuschreibung von Schuld und/oder Verantwortung macht es vielen Menschen schwierig, zurück in den Alltag zu finden. Denn sie haben das Glück „noch da“ zu sein.
Das Leben ist kurz genug und so sollte jede und jeder versuchen, das Beste daraus zu machen. Die meisten Verstorbenen würden wohl wollen, dass sie nicht vergessen werden, aber dass jede und jeder Trauernde die Gegenwart und Zukunft bestmöglich nutzt. Das ist eine der Botschaften, die wir aus Marianengraben mitnehmen.
Vom Himmel weit entfernt
Jasmin Schreiber schafft hier kunstvoll den Spagat zwischen pietätvollem und emphatischem Andenken, der Auseinandersetzung mit einer Art „Schuldfrage“ und zielsicherem Humor oder teils auch Situationskomik. Obwohl es ein so ernstes Thema behandelt, ist Marianengraben ist ein Buch mit Humor, Situationskomik und manch einem Lacher.
Dazu kommen, wie bei Schreiber fast schon üblich, viele kleinere Mosaiksteine. Die Interaktion zwischen einem etwas verschrobenen und dennoch der Jugend aufgeschlossenen Rentner mit einer unischeren jungen Frau, die nicht weiß, was sie mit ihrem lieben langen Tag anfangen soll. Die vielen Bezüge zu Natur und Umwelt, vom Fischartenreichtum in tropischen Gewässern über die situationsbezogene Beschreibung von Birken oder auch das verletzte Huhn, das Paula aufliest und gesundpflegen möchte. Und natürlich der immer wiederkehrende Marianengraben als tiefste Stelle auf diesem Planeten – und gleichzeitig am weitesten vom Himmel entfernte Stelle (so mensch an ein solches Konzept glaubt)…
Ein besonderer Briefroman
Viele dieser Motive – Trauer, Naturbezug, Generationenkonflikte, Schuldfragen – sind bei der Schneckenfreundin Schreiber wiederkehrende Motive und sie zeigt, dass sie sie fast spielerisch in ihre Erzählung einbinden kann. Da fällt es kaum ins Gewicht, dass ein Handlungsstrang im Gesamtkonzept der Geschichte zwar seinen Platz hat, aber genau so gut hätte weggelassen werden können – Stichwort: Lutz.
Alles in allem ist Marianengraben aber ein wunderbar fesselndes Buch, ein langer Brief der Hauptakteurin an ihren verstorbenen Bruder und dass diese sehr spezielle Form der Erzählung am Ende noch ihre Abrundung bekommt, ist ein weiteres Signal für die hohe Schreibkunst der Jasmin Schreiber. Außerdem: Voraussichtlich am 7. November 2024 kommt die Verfilmung dieses Romans in die deutschen Kinos. Wir freuen uns sehr darauf, denn die Lektüre von Marianengraben lässt wunderbare Bilder in unseren Köpfen entstehen.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Jasmin Schreiber: Marianengraben; Februar 2020; 254 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8479-0042-9; Eichborn Verlag; 20,00 €
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