Klassen treffen

Beitragsbild: St Salvator’s Squad, der Innenhof eines der Hauptgebäude der University of St Andrews // Foto: © Hans M. Siglbauer/the little queer review

Mitte August unternahm ich eine Zeitreise in die Vergangenheit: Ich bin zurück in die Stadt, in der ich einst studiert hatte – Klassentreffen. Ich hatte das Glück in St Andrews studieren zu können, einer kleinen Stadt in Schottland, die für zwei Dinge bekannt ist: Sie ist die Heimat des Golfsports mit dem berühmten Old Course und eben für die Universität, die nach Oxford und Cambridge meist als drittbeste in Großbritannien bekannt ist. Prinz William und Kate Middleton haben sich dort kennengelernt.

Golf und Royals – spätestens hier dürfte klar sein, dass es sich um eine recht elitäre Melange handelt. Mir war das damals bewusst, aber was es für mich wirklich bedeutete, habe ich erst jetzt, zehn Jahre später, realisiert. Ich war dort als Arbeiterkind vom Lande und jetzt, reifer und mit einem halbwegs sicheren Auskommen, habe ich gemerkt, was dieser Ort mir noch hätte bieten können. Kontakte, Netzwerke, (für britische Verhältnisse) gutes Essen und ein reiches Freizeitangebot.

Der unbenennbare Mangel

Und ich habe gemerkt, dass mir damals einige Dinge auch gefehlt haben: Geld, Habitus, das Verhalten, das in solch einem Umfeld hilfreich gewesen wäre. Ich war – und bin – immer stolz, Arbeiterkind zu sein. Ich habe meinen Weg nach oben gemacht, Abitur, Studium, Job im Berliner Politikbetrieb. Und doch war da stets ein Mangel, den ich nie beziffern oder benennen konnte.

Heute denke ich, dass ich das etwas mehr kann. Dabei geholfen hat mir die Lektüre von Natalya Nepomnyashchas Buch Wir von unten – Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet. Dieses ist – unter Mitarbeit der Co-Autorin Naomi Ryland – in der Reihe Wie wir leben wollen des Ullstein Verlags erschienen.

Über Bildungsaufsteiger*innen

Natalya Nepomnyashcha, als Kleinkind mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Augsburg gekommen, ist wie ich eine Person, deren Eltern keine akademische Ausbildung und keinen wesentlichen materiellen Wohlstand genossen haben. Ähnlich wie ich, hat auch sie ihren Weg nach oben in der Bildungsgesellschaft gemacht. Sie ist ein Beispiel für den so genannten „Bildungsaufstieg“, der mit dem Schlagwort der „Chancengleichheit“ gerne politisch aufgeladen wird.

Dabei ist sie allerdings auf eine Reihe von Hürden gestoßen, die sie in Wir von unten beschreibt. Von der frühen Kindheit über das in Bayern dreigliedrige Schulsystem, die Ausbildung, den Zugang zu höherer Bildung und den Einstieg in den Beruf gab es immer wieder Barrieren, die Nepomnyashcha überwinden musste. Und selbst heute, als Beraterin bei EY, einer bis zum Wirecard-Skandal renommierten Wirtschaftsprüfung, spürt sie, dass ihr manche Türen verschlossen bleiben, die denen, die privilegierter aufgewachsen sind, scheinbar automatisch aufgehen.

Es ist doch alles da

Ob es das Übertrittszeugnis auf Realschule oder Gymnasium ist, die Diskriminierung beim Bafög, die sozialen Kontakte oder einfach das Wissen um guten Wein und Whisky, es sind viele Dinge, die manche gar nicht als diskriminierend empfinden. Dennoch sind sie unserer Gesellschaft in gewisser Weise immanent und Nepomnyashcha benennt diese unsichtbaren Hürden. Sie greift auf die Arbeiten des französischen Philosophen Pierre Bourdieu zurück, der viele Dinge bereits vor Jahrzehnten niedergeschrieben hat.

Gesellschaftliche Stellschrauben, so Nepomnyashcha, gebe es viele, weshalb sie in ihrem letzten Kapitel auf diese eingeht. Den Abschluss bildet kontraintuitiv ein Beitrag der Co-Autorin Ryland, die eben aus einer wohlhabenden Familie kommt und sich durch Nepomnyashcha und ihre Arbeit aber ihrer Privilegien bewusstwurde.

Kampfbegriff ganz zahm

Klassismus ist ein Kampfbegriff, der von der gesellschaftlichen Linken allzu beherzt und inflationär eingesetzt wird und deshalb an Schlagkraft verloren hat. Natalya Nepomnyashcha jedoch hat zumindest bei mir einen Nerv getroffen und spricht vieles an, was ich selbst erfuhr. In vielen Dingen sind sich unsere Vitae ähnlich, im Wesentlichen fehlt bei mir der – wie es so unschön heißt – Migrationshintergrund, dafür bin ich homosexuell.

Viele andere Erfahrungen, die in Wir von unten beschrieben sind, habe ich selbst gemacht, ohne dafür das System in Frage zu stellen, sondern es unbewusst hingenommen. Trotz exzellenter Noten und Empfehlungen ging ich nicht aufs Gymnasium, sondern habe eine Ausbildung gemacht, wie meine Eltern es vorsahen. Abitur machte ich auf dem zweiten Bildungsweg (und bin sehr stolz darauf), das (gerade in Schottland teure) Studium finanzierte ich aus eigener Tasche, in den gut bezahlten und einigermaßen prestigeträchtigen Job im Herzen der Politik arbeitete ich mich hinein.

Soziale Herkunft und Angst vor dem Wiederabstieg

Alles hielt ich für selbstverständlich, nur habe ich nie die Barrieren hinterfragt, die es dennoch gab. Ich war stets der Überzeugung, durch meine Leistung alles schaffen zu können, aber nach der Lektüre von Wir von unten muss ich doch erkennen, dass es andere deutlich leichter hatten und haben. Die soziale Herkunft prägt mich bis heute in meinen Denkmustern und so gerne ich etwas an Wir von unten kritisieren würde, die ehrliche Auseinandersetzung mit mir und meinen Erfahrungen lässt mich nur zustimmen. 

Es ist die soziale Herkunft, die Natalya Nepomnyashcha immer wieder als limitierenden Faktor heraushebt und die Angst, wieder abzusteigen, vielleicht sogar in materieller Armut zu landen – selbst wenn ich diese nie erlebt habe. Sie schafft es, dies herauszustellen, ohne dies jedoch ideologisch aufzuladen und auch den Zeigefinger lässt sie schön eingezogen. Das ist gut, nimmt es doch die Sprengkraft aus der Thematik heraus. Dass sie eine Reihe weiterer Personen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten, zu Wort kommen lässt, trägt hierzu bei.

Gegen Blindheit und Verblendung

Wir von unten hat mir die Augen geöffnet und gerade da ich nun in einer Situation der beruflichen Neuorientierung bin, merke ich nun bewusster, welche Bereicherung diese Lektüre für mich war. Ich schrecke vor Büchern „aus dieser Ecke“ eigentlich zurück, sind sie meist doch ideologisch zu sehr auf den Klassenkampf ausgerichtet und fast verblendet.

Anders bei Natalya Nepomnyashcha, der Gründerin des Netzwerks Chancen, das sich in seiner Arbeit gerade mit diesen gesellschaftlichen Aufsteigern befasst und daraus sogar ein überzeugendes Geschäftsmodell gemacht hat. Sie hat ihre Erfahrungen ohne Groll und Schaum vor dem Mund niedergeschrieben und trägt damit zu einer konstruktiven Debatte bei.

Mit Schaum hat übrigens auch eine Tradition in St Andrews zu tun, die ich bisher nie verstand und zugegebenermaßen belächelte: Wenige Wochen nach Start des Wintersemesters findet auf dem Campus eine Schlacht statt, in denen die Erstsemester einander mit Rasierschaum beschmieren und dann ihre academic parents, also ihre Mentor*innen für die nächsten Jahre, auswählen. Ich fand das irgendwie albern und für mich als Masterstudenten kam das ohnehin nicht in Frage. Außerdem musste ich an jenem Wochenende was nochmal tun? Korrekt: lernen, um gute Noten zu bekommen. Heute weiß ich, dass das vielleicht zu kurzsichtig war.

HMS

Natalya Nepomnyashcha (mit Naomi Ryland): Wir von unten. Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet; Mai 2024; 272 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN 978-3-5502-0276-6; Ullstein Verlag; 19,99 €

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