Laufzeitverlängerung oder Notabschaltung?

Die EU-Taxonomie bringt das politische Berlin in Wallung. Vor allem die Grünen sind in der Verantwortung, die Pläne der Europäischen Kommission zu verhindern, besetzen sie doch alle relevanten Positionen. Alles andere wäre ein Verrat an ihren Grundüberzeugungen. Ein Kommentar.

Die Entscheidung der Europäischen Kommission, Finanzanlagen in Kern- und Gaskraftwerke als „nachhaltig“ zu deklarieren, kam nicht überraschend. Sie deutete sich vielmehr bereits in den vergangenen Wochen an. Besonders für die seit wenigen Wochen in Berlin mitregierenden Bündnis 90/Die Grünen dürfte es dennoch eine mehr als triviale Herausforderung darstellen. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass sich an dieser Frage bereits früh zeigen könnte, wie sehr die Grünen zu ihrem Ökoimage stehen.

Der Kampf gegen fossile und vor allem aber gegen nukleare Energieträger gehört zum Gründungsmythos der Grünen. Ulrich Schulte hat dies ausführlich in seinem Buch Die grüne Macht beschrieben und selbst die ansonsten inhaltsentleerte Baerbock-Biografie von Anita Partanen greift auf die Kämpfe in den 1980er-Jahren (und teils auch früher) zurück, um diesen inhaltlichen Schwerpunkt der Ökopartei zu illustrieren. Vor allem die Einstufung der Atomkraft stellt nun mehr als ein Ärgernis dar, das die Grünen so nicht abnicken können.

An den Schalthebeln der exekutiven Macht

Nach 16 Jahren Opposition besetzen die Grünen nun seit wenigen Wochen in Berlin alle entscheidenden Schlüsselpositionen (mit Ausnahme der des Bundeskanzlers), die es braucht, um diese Einstufung zu verhindern. Vizekanzler und Klimaschutzminister Robert Habeck hat zwar bereits zu Protokoll gegeben, dass die EU-Initiative „falsch“ sei und er ergänzt, dass er sich eine Zustimmung nicht vorstellen könne. Ein klares und eindeutiges „Nein“ klingt anders. Denn gerade da es für die deutsche Bundesregierung ohne Verbündete im Europäischen Rat oder EU-Parlament schwer ist, die Pläne zu verhindern, stellt sich hier die Frage welche direkten Konsequenzen die Grünen um Habeck – jenseits der Schaffung eines Gegen- und Gegnernarrativs – zu ziehen bereit wären.

Neben ihm sind zwei Frauen in exekutiver Verantwortung, die hier Aktien im Depot haben: Außenministerin Baerbock sowie Umweltministerin Steffi Lemke. Baerbock ist nun auch für die Klimaaußenpolitik zuständig und die EU-Politik ist eine Domäne ihres Hauses. In diesem Zuge lastet nun große Verantwortung auf ihr, die Initiative der EU auf dem Verhandlungsweg zu Fall zu bringen.

Umweltministerin Lemke – vorgenannter Journalist Ulrich Schulte ist übrigens seit Jahresbeginn Sprecher ihres um diverse Kompetenzen verstümmelten Hauses (was zwar nachvollziehbar ist, aber auch ein kleines Geschmäckle hat – bei einer bürgerlichen Partei wäre ein solcher Wechsel nicht von anderen Medien unkommentiert geblieben) – ist qua Amt damit befasst, die Sicherheit und Nachhaltigkeit nuklearer Anlagen zu bewerten. Auch sie kann nicht zu der Einschätzung kommen, dass vor allem die Kernkraft diesen Status erhält.

An den Schalthebeln der legislativen Macht

Interessant ist übrigens auch ein Blick auf das grüne Personal im Parlament. Der passionierte Patissier Anton Hofreiter fühlte sich ausgebootet, als er bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt wurde. Er durfte sich dem Vernehmen nach einen Ausschuss im Deutschen Bundestag aussuchen, den er leiten wollte. In Erwartung, dass er nach der nächsten Europawahl EU-Kommissar werden könnte – die Grünen haben sich hier das Vorschlagsrecht gesichert – wählte er den Europaausschuss. Kollateralschaden war, dass die verfassungsgefährdende AfD den wichtigen Innenausschuss bekam. Auch hierfür wurden die Grünen hart gescholten, ließen alle Kritik aber an sich abperlen wie Ökoschaumwein. Gleichzeitig hat Hofreiter aber nun die Chance zu zeigen, dass der Europaausschuss, der für EU-Vorlagen federführend ist, tatsächlich eine Bedeutung hat und dieses für seine Parte so fundamentale Thema dort abräumt.

Ach ja, und noch eine Parlamentarierin gibt es, die ihrer Verantwortung gerecht werden kann: Ska Keller, eine der beiden Vorsitzenden der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Aus der Wahl 2019 gingen die Grünen – vor allem in Deutschland – so stark hervor wie noch nie. Sie markierte nach der Wahl die starke Frau, überzog (aus teils nachvollziehbaren Gründen) häufig in Ton und Inhalt, bis es wieder sehr still um sie wurde. Nun wäre der Zeitpunkt gekommen, im Europäischen Parlament eine Mehrheit zu finden, die die Vorschläge der EU-Kommission abblockt. Hier kann sich erweisen, ob Ska Keller ihre vollmundigen und teils hochmütigen Aussagen von 2019 tatsächlich realisieren kann.

Klar ist also: Die Grünen besetzen quasi alle Schlüsselpositionen, die es braucht, um die EU-Taxonomie in der jetzigen Form zu verhindern oder wenigstens glaubwürdig zu endschleunigen und wirksam zu hinterfragen. Deutschland ist kein Zwergstaat, sondern hat bekanntermaßen viel Gewicht in Brüssel. Dieses Gewicht müssen die Grünen nun in die Waagschale werfen. Alles andere – eine Zustimmung oder selbst eine Enthaltung zu der Thematik – kann nicht anders bezeichnet werden als ein kolossaler Verrat an der eigenen Wählerschaft und, noch schwerwiegender, an den eigenen Grundüberzeugungen. Im schlimmsten Fall muss das gar einen Koalitionsbruch nach sich ziehen. Es wäre, um mal ein Element der Twitter-Blase zu nutzen, nicht mehr nur ein #OlafSchummelt.

HMS

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