Manierlich behandelt

„Diese jungen Leute – alle keine Manieren!“ Sprüche wie diese kennen wir von betagten Personen und es ist nicht auszuschließen, dass, so wir Jüngeren überhaupt jemals Rente bekommen sollten, uns diese Einschätzung selbst zu Eigen machen. Manieren und der gute Ton entwickeln sich gemeinsam mit der Gesellschaft, wenn auch oft etwas langsamer. Was gestern noch verpönt war, ist heute ganz normal und während das „Fräulein“ in den 1950er-Jahren noch eine adäquate Anrede für eine unverheiratete Frau war, sollte diese heute besser in den Musicals über jene Zeit verbleiben.

Um uns heute dennoch vor so manchem Fettnäpfchen zu bewahren, bedarf es (hier und dort) manchmal aber doch einiger Regeln und (nachvollziehbarer) Konventionen für unseren Alltag dies- und jenseits einer Pandemie. Die Journalistin Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen, Leiterin der Kundenkommunikation bei einem Berliner Start-up, haben dies erkannt und einige Punkte zusammengetragen, um uns das Leben im Alltag leichter zu machen. Ihr Buch ist im Goldmann Verlag erschienen und trägt den etwas sperrigen Titel Im Dschungel des menschlichen Miteinanders – Ein Knigge für das 21. Jahrhundert.

Das Dickicht der heutigen Gesellschaft

Kuhrt und Paulsen arbeiten sich in 13 Kapiteln zuzüglich Einleitung durch das Dickicht der heutigen gesellschaftlichen Konventionen. Sie erläutern, was mensch in sozialen Netzwerken alles machen und anstellen kann und was man eher sein lassen sollte (leider lassen sie TikTok, immerhin ein Major Player, hier aus – schade), wann und für wen es sich ziemt, welches Kompliment zu machen oder wie sich heute eine angemessene Kleiderordnung fürs Büro oder sonstige Anlässe bestimmen lässt. Es geht darum, was Menschen auf der Straße in welcher Situation machen und besser lassen sollten, welche Stolperfallen beim Essen für Gast oder Gastgeber lauern.

Darüber hinaus schreiben sie in aller Ausführlichkeit über das Gendern, über die richtigen (und doch sehr knappen, für den Zweck des Buchs aber völlig ausreichenden) Definitionen verschiedener Minderheiten (LGBTQIA*, BIPoC, etc.), über den richtigen Umgang mit Freundinnen und Freunden sowie wie weit mensch bei einem Tête-à-Tête gehen darf und sollte. Es geht um Elternschaft, darum, was gute und schlechte Eltern sind und abschließend – wir haben alle den Braten erst halb verdautum die Manieren und Fettnäpfchen zu Weihnachten.

Das Rad bleibt rund…

Das ist ein nicht ganz so kleiner Rundumschlag, wie man meinen könnte. Und erst einmal stellt sich die Frage: Gibt es da wirklich so viel zu erläutern? Die Antwort: ja! Soziale Medien waren zu Zeiten eines Freiherrn von Knigge noch nicht ansatzweise erfunden und die zugespitzte Frage, wer „schrille Minderheit“ ist und wer ein „berechtigtes Anliegen“ hat, hat sich auch vor gerade einmal zehn Jahren anders gestellt als heute. Dazu kommen Individualisierung, zunehmender Wohlstand (gehobener Mittelstand und so) und ein verschärftes Bewusstsein für Themen wie Nachhaltigkeit oder Generationengerechtigkeit.

Im Prinzip erfinden die beiden Autorinnen das Rad nicht neu. Sie schreiben vielmehr die bestehenden Regeln von Rücksicht und Anstand fort und wenden sie auf aktuelle gesellschaftliche Realitäten neu an. Ohne dabei allzu deutlich den Zeigefinger zu heben, erläutern Kuhrt und Paulsen, welche Fragen sich heute stellen und knüpfen recht nahtlos an bisherige Konventionen an.

…braucht aber etwas Finetuning

Ja, mensch isst immer noch mit Messer und Gabel, aber bei Burgern oder Pizza kann man auch mal zur (selbstverständlich sauberen) Hand greifen. Und nein, auf der Straße sollte mensch auch heute nicht wahllos herumbrüllen, aber wenn mal eine kleine Feierlichkeit ansteht, bei der dennoch auf die Anwohnerinnen und Anwohner Rücksicht genommen wird, dann kann es auch mal für eine kurze Weile etwas ausgelassener werden. Viele Punkte sollten sich eigentlich aus einer Mischung von christlich-abendländischen Werten, rationaler Aufklärung und dem gesunden Menschenverstand ergeben. Oder anders gesagt: Verhaltet euch einfach anständig – also so, wie ihr es von anderen euch gegenüber erwartet.

Klasse ist, dass die beiden Autorinnen leicht nachvollziehbar darstellen, welche sensibilisierten Konventionen sich in Bezug auf Rassismus, sexuelle Identität oder das Geschlecht in den letzten Jahren herausgebildet haben. Alles, was mit dem Thema „Gendern“ zu tun hat, lässt sich darunter fassen, ebenso, welche Minderheiten die ihnen legitim zuerkannte Sichtbarkeit genießen.

Minenfeld Sprache

Gleichzeitig muss auch hier Vorsicht vor allzu genereller Bildung von Konventionen walten. Ob Menschen, die aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind, nun als „Flüchtlinge“ oder „Geflüchtete“ bezeichnet werden sollen, sollte nicht apodiktisch festgelegt sein. Für die Verwendung von „Geflüchtete“ beispielsweise sprechen sich Kuhrt und Paulsen mit nachvollziehbaren Argumenten aus. Andreas Kossert hingegen, der mit seinem Buch Flucht – Eine Menschheitsgeschichte 2021 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war, bevorzugt aus wissenschaftlicher Sicht den Begriff „Flüchtling“ – auch aus gutem Grund.

Die beiden Autorinnen weisen selbstverständlich darauf hin, dass jeder und jede frei ist, das Gegenüber zu fragen, wie er oder sie angesprochen werden möchte (und hiervon Gebrauch machen sollten). Wenn es aber um solch analytische Sammelbegriffe geht, kann das schwierig sein. Nachvollziehbar argumentierte Herleitungen sollten also nicht pauschal verteufelt sondern respektvoll akzeptiert werden, solange sie die Mindeststandards des Anstands erfüllen.

Ein weiteres Beispiel: Nein, der alte Begriff für Sinti und Roma ist kein heutzutage im allgemeinen Sprachgebrauch zu benutzendes Wort. Gleichwohl erinnere ich mich an eine Gastvorlesung einer Professorin „for gypsy studies“ im Jahr 2015 an meiner Universität. Die Dame ist eine Koryphäe auf ihrem Fachgebiet. Sie argumentierte, dass man im akademischen Englisch nicht vor der Verwendung des Begriffs „gypsy“ zurückschrecken sollte, denn würde nur der Bezug zu „Rom“ oder „Dom“ oder „Lom“ hergestellt, dann würde auch dies wieder andere Gruppen ausschließen. „Gypsy“ hingegen bezeichne den bisher umfassendsten Begriff. Zugegeben, auch ein Sonderfall (noch dazu aus einer Fremdsprache – in deren Kulturkreis dennoch heftig über Rassismus gestritten wird), aber er zeigt gut, dass es immer auch einer gewissen respektvollen Flexibilität bedarf anstatt zu starrer Konventionen.

Kein Klima

Was interessanterweise ein wenig fehlt, ist ein eigenes Kapitel zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Zwischen den Zeilen oder manchmal auch direkt im Text wird zwar immer wieder deutlich, welche politisch eher links stehende, urbane Perspektive die beiden Autorinnen einnehmen – anständiger Umgang gilt auch für die Umwelt und das Klima. Gleichzeitig hätte ein eigenes Kapitel hierfür vielleicht manchen Leserinnen und Lesern noch einen zusätzlichen Einblick darin gegeben, welche Fragen heute vielleicht entscheidender sind als noch vor 50 Jahren.

Das alles soll nicht davon ablenken, dass Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen ein sehr kurzweiliges und informatives Buch geschrieben haben. Im Prinzip ist es eine kleine Fibel darüber, wie sich die gesellschaftlichen Konventionen in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Gerade für Menschen, die sich mit manchen gesellschaftlichen Realitäten bis heute nicht anfreunden konnten oder die Motivation manch „junger (oder junggebliebener) Leute“ noch nicht vollends durchdrungen haben, dürfte Im Dschungel des menschlichen Miteinanders so manche Erklärung und Orientierung bieten. Für alle „jüngeren (oder junggebliebenen)“ ist es eine lesenswerte und kurzweilige Aufarbeitung der aktuellen gesellschaftlichen Realität. Und nein, das „Fräulein“ bleibt auch 2023 weiterhin eingemottet.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Henriette Kuhrt, Sarah Paulsen: Im Dschungel des menschlichen Miteinanders. Ein Knigge für das 21. Jahrhundert; April 2021; 256 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-442-31554-3; Goldmann Verlag; 18,00 €

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