Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit

Uwe Wittstock führt in „Marseille 1940“ Tagebuch über eine einzigartige Rettungsaktion, in der der US-amerikanische Journalist Varian Fry eine Hauptrolle spielt.

Von Nora Eckert

Wir schreiben das Jahr 1940. Innerhalb von weniger als zwei Monaten ist der Eroberungskrieg der deutschen Wehrmacht mit Namen Westfeldzug durch ein Waffenstillstandsabkommen mit Frankreich beendet. Nazideutschland herrscht nun als Besatzungsmacht über die Niederlande, Belgien, Luxemburg und über die Nordhälfte Frankreichs. Die neue französische Regierung wird in Vichy von dem hitlerfreundlichen Militär Philippe Pétain angeführt und ist für die verbliebene Südhälfte des Landes zuständig, allerdings ohne Bordeaux und den so wichtigen Zugang zum Atlantik.


In die französischen Geschichtsbücher ist dieses Ereignis als Le Désastre eingegangen. Genau das war es – ein Desaster und eine Katastrophe für all jene Menschen, die zuvor Zuflucht vor den Nazis in Frankreich gesucht und gefunden hatten. Aus dem Norden Frankreichs setzte eine gigantische Fluchtwelle Richtung Süden ein, weil mit einem Mal nicht nur die Emigrantinnen, sondern auch sehr viele Einheimische in Lebensgefahr geraten waren. Das Rette-sich-wer-kann löste ein unbeschreibliches Chaos aus. Zur wichtigsten Anlaufstation wurde Marseille, denn dort gab es einen Hafen und dazu Botschaften und Konsulate und damit die Hoffnung, der Gestapo zu entkommen.

Den meisten war ziemlich schnell klar geworden, dass die unbesetzte Zone kein sicherer Lebensort sein würde, abgesehen von den erzwungenen Internierungen unter zumeist unwürdigsten Bedingungen und den rasch sich verschlechternden Lebensverhältnissen. Wie aber diesen Teil Frankreichs verlassen können, wenn es dafür keine Ausreiseerlaubnis gibt? Und welches andere Land würde einen aufnehmen? Wie bekannt uns das alles erscheint. Das 20. Jahrhundert wurde zu einem Jahrhundert von Flucht und Vertreibung – und ein Ende ist nirgendwo in Sicht.

Uwe Wittstock, Literaturkritiker und Lektor, hatte sich bereits mit Februar 33: Der Winter der Literatur (2021 ebenfalls bei C. H. Beck erschienen) mit den Folgen der Nazidiktatur für die Literatur auseinandergesetzt. Auch jetzt legt Wittstock ein besonderes Augenmerk auf Kunst und Literatur im Zusammenhang mit Verfolgung und Flucht. Die Alltagsperspektive ist dabei allgegenwärtig, denn nur aus der alltäglichen Lebensbedrohung, die jene Menschen erfahren haben, wird das ganze Ausmaß der zivilisatorischen Katastrophe erkennbar. Oft spielt noch die Macht des Zufalls mit hinein, die über Glück und Unglück, buchstäblich über Leben und Tod entscheidet. Letzten Endes mischt sich in die Lebensgeschichten auch noch das sogenannte Allzumenschliche ein, der ganze menschliche Kleinlichkeitskram, das Fehlbare am Menschen. Weshalb wir bei Wittstock immer wieder auf Anekdotisches stoßen, auf Kurioses zwischen Realitätsverweigerung, Überheblichkeit und Ressentiments – eben das ganze Programm der menschlichen Zivilisation. Aber es gibt eben auch die hilfsbereiten, selbstlosen Menschen – wozu auf jeden Fall die Gruppe um Varian Fry zählt, die nicht nach legal fragt und schon gar nicht nach Eigennutz, sondern nur nach Notwendigkeit entscheidet und handelt.

Alles, was in dem Buch steht, ist belegbar, nichts ist erfunden. Darauf hinzuweisen legt der Autor großen Wert. Es begegnen uns viele bekannte Namen: Heinrich Mann und sein Neffe Golo Mann, Anna Seghers, Franz Werfel, Walter Benjamin, Max Ernst, Rudolf Breitscheid, Hans Sahl, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt und viele mehr.

Varian Fry besuchte in den 1930er Jahren Nazideutschland und erlebt mit eigenen Augen den Terror gegen die jüdische Bevölkerung in brutalen Auftritten der SA. Er selbst ist da gerade 27 Jahre alt und ein erfolgreicher Journalist. „Wenn es so etwas gibt wie das Bild eines klassischen Ostküstenintellektuellen“, so Wittstock über Fry, „dann kommt er dieser Vorstellung ziemlich nahe, schlank, mittelgroß, glattrasiert, mit ernstem, hellwachem Gesicht und randloser Brille.“

Fry ist Hitlers Strategie sofort klar, die auf Krieg zielt. Und wer konnte, hatte 1933 und so lange es noch irgendwie ging Deutschland verlassen. Mit dem Überfall auf Polen war der Krieg nun da und breitete sich wie ein Flächenbrand aus. Fry, längst wieder in New York zurück, wusste nur zu gut, dass es in Europa viele Menschen gab, die dringend Hilfe brauchten. Am 4. August 1940 fand zu diesem Zweck ein Benefiz-Bankett in New York statt, mit dem das Emergency Rescue Committee gegründet wurde. Anschließend flog Fry nach Lissabon und von dort fuhr er mit dem Zug nach Marseille, wo er im Hotel Splendide das Hauptquartier des ERC einrichtet.

Nach außen hin agiert das ERC als Wohltätigkeitsorganisation, die finanzielle Unterstützung gewährt und heißt in Frankreich Centre Américaine de Secours. Doch das ist Tarnung. Tatsächlich geht es in erster Linie um Fluchthilfe, um die Beschaffung von Papieren, die auch gefälscht sein dürfen, so sie einigermaßen echt aussehen. Es entsteht eine legale Fassade für eine illegale Arbeit, aber eine lebensrettende. Fry gerät dabei immer mehr unter Druck, und zwar von allen Seiten – der Druck kommt aus New York und US-Regierungskreisen, er kommt vom amerikanischen Botschafter im nicht besetzten Frankreich und natürlich von französischen Stellen. Dass man ihn von seinem Posten abberufen will, ignoriert er ganz einfach.

Fry und seine Mitarbeiterinnen ficht das nicht an und Not macht bekanntlich erfinderisch. Es ist vor allem Frys Beharrlichkeit und seine Überzeugung, das Richtige zu tun, die hunderten von Menschen das Leben rettet. Vieles gelingt auf den Fluchtwegen nach Lissabon über Spanien, weil es in Frankreich Menschen gibt, die im richtigen Moment wegschauen oder Flüchtende durchwinken und damit politischen Widerstand signalisieren.

Im Sommer 1941 ist dann endgültig Schluss mit den Einreiseerlaubnissen in die USA, die sich in dieser Frage durch eine restriktive Visa-Gewährung ohnehin nicht mit Ruhm bekleckert haben. Im Gegenteil. Das Emergency Visa Programm wird gestoppt, weshalb nun andere Länder als Fluchtorte in Betracht kommen – Mexiko, Kuba, Marokko, Brasilien.

Fry kehrt zurück in die USA, aber nicht als gefeierter Held. Anerkennung wird ihm lange vorenthalten. Erst spät wird er für seine Verdienste geehrt, aber erlebt hat er, der 1967 an einem Hirnschlag starb, es nicht mehr, als ihm 1994 von Yad Vashem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen wurde.

Uwe Wittstock ist mit diesem Tagebuch eine überaus materialreiche Dokumentation gelungen, eine spannende und auch erschütternde Lektüre. Er gewährt uns Einblicke in die Arbeitsweise der Gruppe um Fry, arbeitet dabei biografisch und macht so die Persönlichkeiten hinter der Organisation sichtbar. Am Schluss erzählt Wittstock noch, wie es im Leben einiger Hauptakteur*innen des Buchs weiterging. Der Autor erzählt uns eine Geschichte, die leider nicht aufhört, aktuell zu bleiben.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur; Februar 2024; 351 S., mit 28 Abbildungen und 2 Karten; ISBN 978-3-406-81490-7; C.H. Beck: 26,00 €

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