„Mir fallen gerade nur Katastrophen ein“

Warum nicht einmal einen scheinbar unlösbaren Widerspruch aufheben und zeigen, wie gut Flucht und Emigration mit familiärer Gemütlichkeit einhergehen können. Klingt komisch, ist aber so. Bester Beweis hierfür die aufrichtige Verfilmung von Judith Kerrs Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Die hessische Regisseurin Caroline Link (Nirgendwo in Afrika, Exit Marrakech) setzt die autobiografisch geprägte Fluchtgeschichte Kerrs so berührend wie frei von Kitsch um — bei einem sensiblen Stoff voller Fallstricke ist allein dies schon eine Leistung.

„Juden sind geübte Emigranten“

Nicht wenigen dürfte das Buch der 2019 verstorbenen Judith Kerr vermutlich aus Schul- oder Bibliothekszeiten in der jüngeren Jugend etwas sagen. Wir steigen kurz vor der Reichstagswahl im März 1933 ins Geschehen ein. Die neunjährige Anna Kemper (spitze: Riva Krymalowski) lebt mit ihrem Bruder Max (Marinus Hohmann), Mutter Dorothea (Carla Juri) und Vater Arthur (Oliver Masucci) in Berlin. Arthur steht als jüdischer Intellektueller, Antifaschist und Publizist auf den Verhaftungslisten der Nazis. Obwohl krank, flüchtet er bald von Berlin nach Zürich.

Anna (Riva Krymalowski, Mitte) hat im Schweizer Exil neue Freundinnen und Freunde gefunden // © ARD Degeto/2019 Sommerhaus Filmproduktion GmbH, La Siala Entertainment GmbH/NEXTFILM Filmproduktion GmbH und Co. KG / Warner Bros. Entertainment GmbH/Frédéric Batier

Aber auch für den Rest der Familie Kemper wird es allmählich gefährlicher und so entschließen sie sich, Haus und Hof in der Obhut der treuen Seele Heimpi (Ursula Werner) zu lassen sowie wertvolle, teils signierte Erstausgaben dem engen Freund und Patenonkel Julius (Justus von Dohnányi) zu überlassen. Die künstlerisch begabte Anna wird in dieser Situation aus ihrem vermeintlich beschaulichen Leben gerissen und darf nur das Notwendigste mitnehmen. So bleibt auch ihr geliebtes, rosafarbenes Stoffkaninchen zurück…

„Immer wenn wir irgendwo ankommen, …“

Keine besonders gemächliche Ausgangslage also und doch erzählt Link mit ihrer Drehbuch-Co-Autorin Anna Brüggemann eine zarte Geschichte, die auch in ihren dramatischsten Momenten weder defätistisch noch hoffnungslos ist. Das liegt auch an dieser greifbaren Familie, die natürlich unter den Veränderungen, dem Antisemitismus und der Unsicherheit leidet, dabei aber eine liebe- und würdevolle Einheit bildet.

Arthur (Oliver Masucci, li.) erfährt von Onkel Julius (Justus von Dohnányi) schlechte Neuigkeiten aus der Heimat // © ARD Degeto/2019 Sommerhaus Filmproduktion GmbH, La Siala Entertainment GmbH/NEXTFILM Filmproduktion GmbH und Co. KG / Warner Bros. Entertainment GmbH/Frédéric Batier

Außerdem verzichtet Link darauf, irgendwelche sowieso nicht von Kerr vorgesehenen Momente dazuzudichten. Etwas, das viele andere wohl allein schon um der Effekthascherei willen getan hätten. Mit anderen Worten: Kein Herr Hitler, keine aufgeregten Märsche. Dafür eine authentische Flucht- und Familiengeschichte, die die Kempers später von Zürich nach Paris und schließlich London führen soll.

„…gibt’s alten Käse“

Wunderbar füllt Riva Krymalowski, die zur Zeit des Drehs um die zehn Jahre alt war, die Rolle der kessen, selbstbewussten und fragenden Anna aus. Gibt der Figur eine zögerliche Leichtigkeit und trägt Sätze wie diese „Wie es aussieht, hatten alle berühmten Menschen eine schwere Kindheit. Ich fürchte, aus uns kann nichts werden“ mit einem zauberhaften Aplomb vor, dass das Herz nur so wackelt. 

Anna (Riva Krymalowski) hat Heimweh // © ARD Degeto/2019 Sommerhaus Filmproduktion GmbH, La Siala Entertainment GmbH/NEXTFILM Filmproduktion GmbH und Co. KG / Warner Bros. Entertainment GmbH/Frédéric Batier

Dabei wird nie der Hintergrund karikiert oder der Holocaust als reine Story-Vorrichtung missbraucht. Somit ist die Verfilmung von Als Hitler das rosa Kaninchen stahl im besten Sinne eng an Judith Kerrs Buch ausgerichtet und sowohl für Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene eine unbedingt sehenswerte, wichtige und niveauvolle Beschäftigung mit einem Thema, das nicht verdrängt werden sollte. Und wer weiß: Womöglich wird ja wieder einmal das Buch zur Hand genommen und vielleicht gar die beiden nachfolgenden Teile von Kerrs Emigrations-Trilogie.

JW

PS: „Menschen, die keine Dankbarkeit empfinden können, sind immer Verlierer.“

PPS. Wirtshaus „Nasser Sack“.

PPPS: „Nun kann doch noch was aus uns werden. Jetzt hatten wir wirklich eine schwierige Kindheit.“ — „Na schau, so hat doch alles etwas Gutes.“

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl // © ARD Degeto/2019 Sommerhaus Filmproduktion GmbH, La Siala Entertainment GmbH / NEXTFILM Filmproduktion GmbH und Co. KG / Warner Bros. Entertainment GmbH/Mathias Bothor

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl läuft am Sonntag 25. Dezember 2022 um 20:15 Uhr im Ersten.

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl; Deutschland, Schweiz 2019; Buch: Anna Brüggemann, Caroline Link, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Judith Kerr; Regie: Caroline Link; Kamera: Bella Halben; Musik: Volker Bertelmann; Darsteller*innen: Riva Krymalowski, Marinus Hohmann, Carla Juri, Oliver Masucci, Justus von Dohnányi, Ursula Werner, Rahel Hubacher, Anne Bennent, u. v. a.; Produktion: Jochen Laube, Fabian Maubach; Laufzeit: ca. 117 Minuten; FSK 0; Prädikat besonders wertvoll

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