„Narzissten können keine Empathie empfinden.“

Das Internet vergisst nie, heißt es ganz richtig. Mensch könnte auch sagen: Das Internet wird sich immer an dich erinnern. Ist es das auch, was die junge Influencerin Aalisha Mansour (Hannah Gharib) sich dachte, als sie sich vom Dach eines Einkaufszentrums in den Tod stürzt (groaßrtig in Szene gesetzt!) – wohl wissend, dass das von all den appgeilen Besucher*innen aufgenommen würde? Irgendwie angekündigt hatte sie das wohl in einem irgendwie ominösen Post kurz zuvor.

Die Influencerin Aalisha Mansour (Hannah Gharib) ist durch das Glasdach eines Einkaufszentrums gestürzt, Gesa (Seyna Sylla) versucht ihr zu helfen // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Der Freitod, so hat es für die Ermittelnden um Doreen Brasch (Claudia Michelsen) in diesem Polizeiruf 110 – Unsterblich den Eindruck, war eine gute Gelegenheit mit einem Bang zu gehen. Aalisha stand ganz oben und fiel dann tief – auch im übertragenen Sinne. Sie warb auf ihrem Kanal für ein gaaanz tolles Diätmittel namens LXR, musste aber zugeben, dass das Mittel nur Fake ist und nichts bewirkt. Hass und Häme waren nun an der Tagesordnung. Beinahe schlimmer noch: Die Zahlen ihrer Follower*innen gingen in den Keller und damit der Traum von der großen Influencerin-Karriere, aus der wer weiß was hätte werden können.

„Nich weil se nicht wollen…“

Durch Aalishas „Mitbewohnerin“ Leonie Jaspers (Katharina Stark, Deutsches Haus) werden allerdings die Zweifel Braschs bestätigt, dass es sich wirklich um Selbstmord handelt. Leonie zeigt der Kommissarin ein Foto, das beweisen soll, dass Aalishas Bruder Mahdi (Mo Issa), der schon immer gegen ihre Karriere war und sie gar öffentlich bedroht hat, seine Schwester verprügelt hat. Brasch bittet zum Verhör… auf Brasch-Art halt.

Nur Mitbewohnerinnen? Eher weniger… Für Leonie (Katharina Stark, r.) war Aalisha (Hannah Gharib, l.) der liebste Mensch der Welt // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Das klingt nun stark nach dem Thema „Ehrenmord“. Irgendwas mit Würde der Familie (die eine Fluchtgeschichte hinter sich hat und ein Trauma mit sich trägt; toll gespielt von Eman Dwagy als Schwester Nadira sowie Tahani Salim und Husam Chadat als Mutter Halime und Vater Hamza) und derlei. Durchaus spielt dieser von Michael Gantenberg (der mit Tod einer Toten schon einen sehr starken Polizeiruf aus Magdeburg verfasst hat) geschriebene und von Florian Knittel (aktuell: Disko 76 auf RTL+ u. a. mit Luise Aschenbrenner, Jannik Schümann, Jonas Holdenrieder und Emma Drogunova; Rezension folgt) inszenierte Krimi auch damit. Allerdings nicht so lang, dass es doof würde. Versierte Sonntagskrimi-Zuschauer*innen wissen natürlich, dass es da noch eine Ebene hinter der augenscheinlichen gibt.

Der verdächtige Mahdi (Mohamed Issa) begrüßt Schwester Nadira (re., Eman Dwagy) und Mutter Halime (Tahani Salim) // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Was bei Unsterblich doppelt gut passt, denn immerhin geht es um die Inszenierung im Netz, die Rolle, die Influencer*innen vor den Augen der Öffentlichkeit spielen und die Personen, die sie wirklich sind. Das ist bei Aalisha… nun nicht unebdingt ein Mensch, mit dem mensch sich jederzeit umgeben wollen würde. Sehr subtil und im richtigen Moment krachend blättert Autor Gantenberg diese Figur hier auf. Das ist sehr spannend und nicht nur Brasch, Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler) und Kriminalobermeister Günther Márquez (Pablo Grant) sehen sich das gespannt an.

„…sondern weil sie nich können.“

Apropos Rollen, die mensch spielt: Nach den Ereignissen in Du gehörst mir, ist Lemp noch immer nicht ganz auf der Höhe. Die Psyche angeschlagen und ohne Krücke geht’s auch noch nicht. Natürlich versucht er sich nicht anmerken zu lassen, aber dass er bei seiner langjährigen Kollegin und doch auch Freundin Brasch da an der falschen Adresse ist, müsste er an sich wissen. („Ich glaube, ich weiß mehr über Sie, als über meinen eigenen Bruder.“ – „Liegt am Job.“)

Ein lädierter Lemp (Felix Vörtler) beobachtet Brasch und Muser bei der Tatortbegehung // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Das gefällt grundsätzlich an den Polizeirufen: Was geschieht, hat Konsequenzen und ist nicht in der nächsten Folge vergessen. Siehe Black Box nach Der Verurteilte. So steht zu vermuten, dass auch dieser Fall wieder Spuren hinterlassen dürfte, scheinen doch sowohl Lemp als auch Brasch am Ende deutlich mitgenommen. Was nachvollziehbar ist.

Aalisha (Hannah Gharib, mitte) sucht die Nähe zu ihrer Familie, doch Mutter Halime (Tahani Salim, l.) und Schwester Nadira (Eman Dwagy, r.) wenden sich ab // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Unsterblich zeigt, wie die Suche – oder Sucht – nach Fame, auch Liebe, wie Geltungsdrang und Gefallsucht, Narzissmus und das Streben nach immer mehr Familien, Menschen und Unschuld vernichten können. Ein durchweg stimmiger, spannender, teils schockierender Film über Bedürfnisse, die um jeden Preis gestillt werden wollen.

AS

PS: Zwei traurige Nachrichten. Schauspieler und Musiker Pablo Grant ist am 6. Februar 2024 mit nur 26 Jahren an den Folgen einer Thrombose gestorben. Den Kriminalobermeister Günther Márquez spielte er seit 2020, die letzte Polizeiruf-Episode mit ihm wird 2025 zu sehen sein.

Brasch, Márquez und Lemp // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Ebenso ist Hendrik Arnst, der hier in einer Episodenrolle als Dieter Herzog zu sehen ist, am 2. Januar 2024 nach kurzer schwerer Krankheit mit 73 Jahren gestorben. Arnst wirkte in mehr als 90 Film- und Fernsehproduktionen mit.

PPS: Lemp und Brasch: „Haben Sie sich schon mal gefragt, was bleibt, wenn wir nicht mehr sind?“ – „Mhmh, nee. Ich hab mich irgendwann entschieden, mich nicht mehr mit der Zukunft zu beschäftigen, ich hab schon mit der Gegenwart genuch zu tun.“

Brasch und Lemp reden über Familie, den Job und was danach kommt // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

PPPS: Kommende Woche (allerdings erst am Pfingstmontag) gibt es den letzten Tatort der Saison, dieser kommt aus dem Schwarzwald. Am Sonntag darauf zeigt Das Erste den zweiten Polizeiruf aus München mit Johanna Wokalek. Dann isch over. Also für den Sommer. Aber hey – kommt ja die Fußi-Heim-EM und ab dem 20. Juni wieder rbb/wdr/br Queer, dazu demnächst mehr.

Brasch (Claudia Michelsen) // © MDR/filmpool fiction/Stefan Erhard

Polizeiruf 110 – Unsterblich läuft am Sonntag, 12. Mai 2024, um 20:15 Uhr im Ersten sowie um 21:45 Uhr auf ONE; anschließend ist der Film für zwölf Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Polizeiruf 110 – Unsterblich ; Deutschland 2024; Regie: Florian Knittel; Drehbuch: Michael Gantenberg; Bildgestaltung: Benjamin F. Wieg; Musik: Anne Müller; Darsteller*innen: Claudia Michelsen, Felix Vörtler, Pablo Grant (†); Henning Peker, Hannah Gharib, Katharina Stark, Eman Dwagy, Mo Issa, Tahani Salim, Husam Chadat, Hendrik Arnst (†), Seyna Sylla, u. a.; Eine Produktion der filmpool fiction im Auftrag des MDR.

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