Ohne falsche Scham

Zuerst stutzte ich und musste lachen, als ich Anfang dieser Woche in einem Skimm’d-Newsletter meines Vertrauens las, dass in Florida die Rektorin Hope Carrasquilla zum Rücktritt genötigt wurde, nachdem sie ihren Sechstklässlern im Kunstunterricht zum Thema Renaissance ein Bild von Michelangelos berühmter Statue David gezeigt hatte, die im Original jährlich Millionen Besucher*innen in die Accademia di Belle Arti in Florenz zieht. Das sei Pornografie — und basta! Dann aber erschien mir das nur folgerichtig: Florida, der Staat, in dem alles geht, außer es hat nichts mit Rentner*innen, Flamingos, Alligatoren oder Waffen zu tun. Der reaktionär-libertäre republikanische Gouverneur Ron-Don’t-Say-GayDeSantis sorgt zudem für ein noch rigoroseres Klima in dem Bundesstaat, in dem sich auch Donald Trump und Jair Bolsonaro vor der Realität und juristischer Verfolgung zu verstecken versuchen. 

Nacktheit ≠ Pornografie

Eigentlich also gar nicht so witzig. Schnell war ich auch dabei, mir zu denken, dass die USA, das vermeintliche Land der Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten, eigentlich doch nur eine prüde Provinz mit Wolkenkratzern und kreativen Serienkillern ist. Das andererseits wäre vorschnell, denn Nacktheit ist nicht nur dort in gewissem Maße verpönt — und Florida hat’s nicht erfunden, die Abbildung von Körpern in der Kunst als Pornografie zu bezeichnen.

Illustration: © Rosie Haine/Bohem Verlag

Lange galt in Europa eine ganz ähnliche Wahrnehmung, dies nicht erst und ausschließlich im viktorianischen Zeitalter. Auch die Kirchenoberen waren sich nicht immer ganz sicher, wie nackt ihre ikonenhaften Figuren denn nun sein dürften (Stichwort: Feigenblatt) und in vielen Gebieten des asiatischen Kulturraums ist (öffentliche Zurschaustellung von) Nacktheit nach wie vor ein Großes No-No! 

Doch denk ich mir: Es ist doch schön, nackt zu sein… ganz passend lautet so auch der Titel eines Sachbilderbuchs, das im vergangenen Herbst im Schweizer Bohem Verlag erschienen und auf eine Initiative der Tate Gallery zurückzuführen ist. Kreiert wurde es von Rosie Haine, die erst über Umwege dazu kam, Kinderbücher zu schreiben und zu gestalten. Dass ihre Ideen für diese durch ein Gefühl kommen, dem sie Ausdruck verleihen möchte, glauben wir bei dem vorliegenden Band gern.

Individuelle Merkmale 

Wie schon in Maki Saitos Ich bin so froh über meinen Po! geht es auch in Es ist doch schön, nackt zu sein, denn jeder Körper ist ein Wunder. (so der volle Titel) um Body Positivity und ein gesundes Selbstwertgefühl. Natürlich braucht es dafür Eltern, die kein Problem damit haben, mit ihrem Kind (Altersempfehlung ab vier Jahren) über Körperlichkeit, Nacktheit und Veränderungen im Lauf der Zeit zu sprechen. 

Illustration: © Rosie Haine/Bohem Verlag

Hilfreich dabei mag sein, dass auf der ersten Doppelseite zu den Worten „Nackt — so oder so ähnlich sehen wir aus“ ein Kind gezeichnet ist und womöglich manch eine Assoziation entstehen lässt, die den Zugang auch für Jüngere bequem macht. Ebenso bei manchen Eltern eine Barriere abbauen könnte. 

Auf den folgenden Seiten werden uns unterschiedliche Körperstellen und -merkmale gezeigt: Gesichter, Pos, Brustwarzen, Penes (allesamt unbeschnitten, was dann doch nicht so der Realität entsprechen dürfte), Vulven, Busen, Haare, Hautfarben, Sommersprossen, Narben und Tattoos. Die Illustrationen von Rosie Haine treffen, so möchte ich meinen, dabei die richtige Mischung aus unverzagter Verspieltheit und kunstvollem Ausdruck. Skizzenhafte Elemente treffen auf detailfreudige Charakteristik. 

Fehlgeleitete Scham entlernen

Unterstützt von leichtfüßigem Text — übersetzt von Kathrin Bögelsack und Wolfgang Hölker — entsteht in It isn’t RUDE to be NUDE, wie der Band im englischsprachigen Original ebenfalls wunderbar betitelt ist, eine ermächtigende und unterstützende, durchweg positive Sicht auf den Körper in allen Facetten. Auch müssen Eltern keine Angst haben, dass ihre Kinder sogleich zu überzeugten Nudist*innen würden.

Viel eher geht es darum, mit weniger Scham durch den Alltag zu gehen… und was das für eine Entlastung ist, dürfte den meisten bewusst sein. Schließlich ist diese fehlgeleitete Scham in Bezug auf das eigene körperliche Selbst etwas, das wir anerzogen und aufoktroyiert bekommen (allein zu sagen, dass man gern nackt schläft sorgt manches Mal für Blicke voller Entsetzen). Wieso nicht also früh dieser Entwicklung etwas entgegenhalten? 

Rosie Haines Es ist doch schön, nackt zu sein, denn jeder Körper ist ein Wunder. eignet sich dafür hervorragend. Es lehrt stolz auf den Körper zu sein und ihn nicht als albern oder unnormal zu sehen — und schon gar nicht schambehaftet zu betrachten. Ein feines (Kinder-)Buch

AS

Rosie Haine: Es ist doch schön, nackt zu sein…; Oktober 2022; Aus dem Englischen von Kathrin Bögelsack und Wolfgang Hölker; 40 Seiten, vollfarbig; Hardcover mit Mattlaminierung; Format: 21,4 x 28,0 cm; ISBN: 978-3-95939-214-3; Bohem Verlag; 18,00 €

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