Pflege ist eine Notwendigkeit – keine Selbstverständlichkeit

Der durch sein Streit-Gespräch mit Angela Merkel in der ARD-Wahlarena 2017 bekannt gewordene damalige Auszubildende in der Gesundheits- und Krankenpflege Alexander Jorde hat mit Kranke Pflege – Gemeinsam aus dem Notstand (erschienen im Tropen Verlag) im Jahr 2019 ein Buch vorgelegt, welches die Missstände konkret benennen, Wege aus dem Notstand aufzeigen und internationale Vergleiche ziehen will. Das funktioniert nur teilweise.

Was passiert: Alexander Jorde legt auf den knapp 200 Seiten in fünf Kapiteln nicht nur dar; wie sich der Pflegenotstand erkennbar macht (insbesondere Kapitel 2), sondern räumt auch mit einigen Klischees auf (Kapitel 1: „Pflegen kann doch jeder – oder?“), versucht „Schuldige“ (Kapitel 3) ausfindig zu machen und wagt einen „Blick über den Tellerrand“ (Kapitel 4) in die Niederlande und die USA, nach Norwegen und Japan. Schließlich beschreibt er „Wege aus dem Notstand“ (Kapitel 2). 

Was passt: Die Quellendichte ist klasse, Jorde hat für sein Buch intensiv recherchiert. Dieser Aufwand macht sich bezahlt, schreibt er doch nicht nur ein gefühliges Erfahrungsbuch, sondern durchaus einen fakten- und evidenzbasierten Bericht über den Zustand der deutschen Pflege, bzw. in Teilen des deutschen Gesundheitssystems. Auch wenn seine Kritik sich primär an die Politik und Krankenhausbetreiber, insbesondere private, richtet, spart er nicht mit Kritik am eigenen Berufsstand. Viele Kolleg.innen ließen sich mitziehen, seien zu bequem oder festgefahren, um „Nein“ zu sagen, würden den Nachwuchs demotivieren und Zusammenschluss oder gewerkschaftliches Engagement seien durchaus ausbaufähig. Dass er sich für eine stärkere Akademisierung des Pflegeberufs einsetzt und für mehr Effizienz wirbt. ist löblich, denn es sind durchaus wichtige Anliegen. So merken Leserinnen und Leser dem Buch auch an, dass es Alexander Jorde wirklich ein dringliches Anliegen ist. Der Mann brennt für das Thema, den Beruf und weiß um die Wichtigkeit desselben. Er hat sich nicht auf irgendein Thema gesetzt, um irgendein Buch darüber zu schreiben. Diese Authentizität ist nicht nur sympathisch, sondern gibt seiner Stimme die notwendige Seriosität. 

Was passt nicht so: Die berechtigte Kritik Alexander Jordes am Pflegesystem wie es derzeit strukturiert und finanziert ist, ist leider oftmals einseitig stark auf private Betreiber ausgerichtet. Natürlich fordert er mehr Geld, ist auch in Ordnung, und meint, die Reichen sollten mehr zahlen. Da fehlt es dann leider an konkreten Vorschlägen, wie diese Lasten geschuldet werden sollten und das kommt somit eher polemisch daher. Finanzierungsvergleiche mit anderen europäischen Ländern, die er anstellt, funktionieren insofern nur bedingt, als dass die Länder ohnehin ein anderes Konzept fahren und weit weniger Einwohner haben. Etwas kurz kommt der Gedanke, dass man vorhandenes Geld auch sinnvoller investieren könnte.

Ebenso nutzt er den Raum unnötig oft, um sich über die vermeintlich weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich auszulassen, „die Regeln des Marktes“ anzuprangern, etc.. Häufig in Zwischensätzen und Untertönen. Jorde schreibt im Epilog, dass Kranke Pflege natürlich ebenfalls ein politisches Buch sei, aber etwas weniger SPD-(Wunsch)-Parteiprogramm hätte es auch getan. Zumal Jorde in seinem Buch leider nicht erwähnt, dass er seit 2018 Mitglied der Partei ist.

Mit Blick auf das Ausland lobt u. a. er einen verbindlichen Personalschlüssel in Kalifornien, was natürlich toll ist, und findet überhaupt lobende Worte für dies und jenes in den USA. Dieses Lob spart jede Kritik am dortigen Versicherungssystem aus und es ist fraglich, ob Alexander Jorde sich über einen verbindlichen Pflegeschlüssel bei uns freuen würde, sollten wir ihn so finanzieren, wie das in den USA geschieht. Dass die USA nicht gerade für ein vorbildliches, hoch entwickeltes und vor allem bezahlbares System für alle bekannt sind, dürften die Volten um ObamaCare und Donald Trumps Versuche, diese Reform rückgängig zu machen, in den vergangenen Jahren eindrücklich gezeigt haben.

Die letzten Seiten dienen einer allgemeinen Gesellschaftskritik, dissen Instagram und sind ein wenig krude, inklusive eines Schlusszitates von Mahatma Ghandi. 

Kranke Pflege vermittelt einen guten Eindruck davon, wie erschreckend schlecht es in Teilen um das Pflegesystem in Deutschland bestellt ist und unterlegt die Beschreibung der Problemstellungen mit reichlich Fakten, das macht es durchaus lesenswert. Die vermeintlichen Lösungsansätze lesen sich dann jedoch zum Teil wie ein feuchter, roter Traum, einiges ist nicht zu Ende gedacht und manch eine Verallgemeinerung ärgert nur. 

AS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Alexander Jorde: Kranke Pflege – Gemeinsam aus dem Notstand; 3. Auflage 2019; 211 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-608-50384-5; Tropen Verlag; 17,00€; eBook 13,99€ (ISBN: 978-3-608-11528-4)

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