Reformstau?

Mit dem nun ein halbes Jahr früher als geplant eingesetzten Wahlkampf werben die Parteien wieder um Wähler*innen. Gut so, das ist deren Job. Und viele dürften den Parteien im Ampelchaos der letzten Jahre von der Stange gegangen sein

Angela Merkel bot vielen Kommentator*innen erst letzte Woche den geeigneten Anlass, auf den Reformstau hinzuweisen: Im Zuge der Veröffentlichung ihrer Autobiografie fanden sich viele Beobachter*innen, die auf die vermeintlich verheerende Reformbilanz der vormaligen Kanzlerin hinzuweisen meinten.

Dass dieselben Stimmen dieselbe Kanzlerin während ihrer Amtszeit für ihre Resilienz und ihr bedachtes Krisenmanagement lobten – Stichwort: Krisenkanzlerin –, fällt im Rückblick gerne mal unter den Tisch. Auch dass sie die zu jener Zeit sinnvolle Aussetzung der Wehrpflicht, den Ausstieg aus der Atomkraft die Einrichtung der Schuldenbremse maßgeblich unterstützte – ja, auch das sind Reformen – fällt dabei gerne unter den Tisch oder wird nun bemängelt. Und wie gesagt, viele Reformen fielen den Entwicklungen anheim, für die auch die beste Kanzlerin nichts kann, Flüchtlingsströme oder ein neuartiges Virus seien genannt.

Aber wollen wir uns nicht an den vermeintlichen Versäumnissen der Kanzlerin a. D. abarbeiten, sondern auf das Heute blicken. Denn wenn es darum geht, großflächige und tiefgreifende Reformen zu fordern, sind alle schnell dabei. Nur wird die Frage, worin diese bestehen sollen, dann in der Regel nicht beantwortet – und wenn, dann eher mit Plattitüden à la „mehr Musk und Milei wagen“.

Wie sollte denn eine Reform des Steuersystems oder des Arbeitsmarkts aussehen? Wie das Asylsystem oder Planfeststellungsverfahren verbessert und beschleunigt werden? Ja, wir hören immer Schlagworte wie „effizienter“, „digitalisieren“ oder „Bürokratieabbau“, aber wo genau soll es denn digitaler werden und welche Bürokratie soll denn abgebaut werden?

Gerade Bürokratie dient ja (in der Regel) keinem Selbstzweck, sondern der Durchsetzung von Regelungen und der Verhinderung von Missbrauch (zum Beispiel Dokumentationspflichten) oder dem Schutz von Minderheitenrechten (etwa Beteiligungsverfahren bei großen Bauprojekten). Entbürokratisierung bedeutet hier an vielen Stellen den Abbau von Beteiligungsmechanismen und das geht zulasten vieler gesellschaftlicher Gruppen. Das gehört an dieser Stelle zur Wahrheit dazu. Wenn sich Menschen aber nicht gehört fühlen, dann ist der Weg, Extremisten zu wählen oft nicht weit. Oder zumindest der lautstarke Protest – siehe die Bauernproteste Anfang 2024.

Dazu kommt, dass wir in der Regel Koalitionsregierungen haben – auch nach der nun anstehenden Wahl im Februar ist das zu erwarten. Oft genug verstehen sich Koalitionsparteien aber eher als Verhinderer denn als Gestalter. Das blockiert große Reformvorhaben oft von Beginn an. In Österreich gab es bis zur Nationalratswahl im Herbst 2024 das einigermaßen angenehme Modell, dass die Koalitionäre von ÖVP und den Grünen jeden in seinem Ressort haben machen lassen und hier – wenn auch nicht selten zähneknirschend – zugestimmt haben.

Ein solches Modell hat seine Tücken, keine Frage. Aber es könnte auch helfen, an einigen Stellen nach der Wahl und einer Koalitionsbildung voranzukommen. In Ansätzen gibt es das ja auch im Rahmen von Koalitionsverhandlungen, aber vielleicht könnte es helfen, dass wir an manchen Stellen wie beim Klimaschutz, der Digitalisierung oder der Sanierung der Infrastruktur nach der Wahl doch etwas schneller vorankommen.

Ja, in diesem Fall müssten viele die eine oder andere Kröte schlucken, das ist ganz ohne Frage. Aber zumindest wäre es ein Modell, das uns vielleicht an manchen Stellen etwas schneller voranbringt. Olaf Scholz nannte es einst „Deutschlandgeschwindigkeit“. Nun, bis heute ist diese Deutschlandgeschwindigkeit auf dem Tacho eher mit der eines Autos vergleichbar, das mit der untergelegten Fußmatte rückwärts aus dem Tiefschnee befreit werden muss.

HMS

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