Russlands unbequemes Gewissen

Knapp drei Wochen herrscht nun Krieg in der Ukraine und die Verurteilung des Angriffs durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin und der um ihn herrschenden Kaste ist hierzulande groß. Fast alle relevanten öffentlichen Gruppierungen haben sich entschieden gegen diesen klaren Bruch des Völkerrechts ausgesprochen.

Sprachlicher Rassismus

Wir kennen es allerdings aus früheren Situationen, zum Beispiel Corona: Der damalige US-Präsident Donald Trump verunglimpfte es als das „China Virus“, weil es dort zuerst aufgetreten war und schürte Ressentiments gegen das chinesische Volk. Als die ersten Mutanten auftraten, war zuerst die Rede von der „britischen“, der „indischen“ oder der „südafrikanischen Variante“. Erst später wurde sich darauf geeinigt, griechische Buchstaben für die Unterscheidung zu verwenden. Die vormaligen Bezeichnungen tragen mindestens einen latent rassistischen Unterton in sich, denn die Menschen in Großbritannien, Indien oder Südafrika können per se nichts für die Mutanten, werden aber sprachlich auf diese Weise in Kollektivhaftung genommen.

Russlands unbequemes Gewissen: Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja // © Jens Schade/Florianfilm

Ähnliches ist leider auch in Bezug auf Putins Krieg zu beobachten: Russinnen und Russen werden aufgrund ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrer Kultur diskriminiert. Und es stimmt, Putin ist Russe, steht dem russischen Staat vor. Aber da Russland schon lange nicht mehr als eine „lupenreine Demokratie“ bezeichnet werden kann, kann auch das russische Volk nicht für Putins Krieg in Verantwortung gezogen werden.

Ludmila Ulitzkaja – eine starke Stimme gegen Putin

Im Gegenteil, viele Russinnen und Russen sind gegen diesen Krieg und gerade deshalb ist es wichtig, mit diesen Menschen im Dialog zu bleiben. Sie zu verstehen und mit ihnen zu reden, ist eine wesentliche Möglichkeit, um gegen Putins Krieg im Kleinen anzukämpfen. Einige wenige prominente Persönlichkeiten haben bereits wenige Tage nach Putins Invasion ein kollektives Statement hierzu abgegeben, darunter auch die bekannte Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, die sich bereits in der Vergangenheit gegen Putin und sein Regime positioniert hat.

Eine seit über 20 Jahren bestehende freundschaftliche Zusammenarbeit verbindet Ulitzkaja mit ihrer Lektorin Christina Links // © Jens Schade/Florianfilm

Auch in Deutschland werden ihre Bücher verlegt, zuletzt im Hanser Verlag. 2021 veröffentlichte dieser ihr Buch Eine Seuche in der Stadt, das wir mit Begeisterung gelesen haben. Und erst vor wenigen Wochen erschien ihr neuer Geschichtenband Alissa kauft ihren Tod (unsere Besprechung folgt).

„In den Schicksalen ihrer Familie spiegeln sich die Katastrophen des 20. Jh“

Am kommenden Mittwoch, dem 16. März, sendet arte die Dokumentation Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja über sie, ihren Werdegang, ihr Leben und ihre Positionen. Als Neunjährige aus dem Ural nach Moskau gekommen, wuchs sie in einer Kommunalka auf. Sie wurde sie erst Genetikerin und beschäftigt sich ab den 1980er-Jahren in ihrer Literatur mit dem Leben im Totalitarismus, mit dem Verhältnis von Staat und Individuum und mit verschiedenen Phasen der Sowjetunion.

Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa ist eine gute Freundin von Ljudmila Ulitzkaja // © Jens Schade/Florianfilm

Die Dokumentation lässt die in einer jüdischen Familie aufgewachsene Autorin selbst zu Wort kommen, aber auch Wegbegleiterinnen und -begleiter wie die bekannte russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa, die mit Ulitzkaja befreundet ist und die Mitbegründerin der vor Kurzem in Teilen in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL war. Auch ihre Lektorin Christina Links und ihre Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt, mit denen Ulitzkaja bereits seit etwa 30 Jahren zusammenarbeitet und eine über das Geschäftliche hinaus eine enge Beziehung aufgebaut hat, kommen zu Wort.

Die Schauspielerin Mechthild Großmann lässt die Texte Ljudmila Ulitzkajas noch einmal auf ganz besondere Art lebendig werden // © Jens Schade/Florianfilm

Sehr passend sind die immer wieder eingeflochtenen Passagen aus Ulitzkajas Büchern und Essays, die durch die gesamte Dokumentation hindurch von der Frau mit der Reibeisenstimme, Mechthild Großmann (vielen bekannt als Staatsanwältin Klemm aus den Münsteraner Tatorten; zuletzt war sie für das von ihr eingelesene Hörbuch Biest & Bethany – Nicht zu zähmen für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert), eingebaut werden.

„Die Staatsmacht nicht zu lieben ist ziemlich normal für einen russischen Intellektuellen“ 

Nicht jeder Russe und jede Russin kann es sich leisten, die eigene Stimme gegen Wladimir Putin zu erheben. Ljudmila Ulitzkaja kann es und sie tut es. Und genau solche Kunst- und Kulturschaffende müssen wir dieser Tage unterstützen. Wer, wie der bisher auch in München tätige Dirigent Valery Gergiev oder die bekannte Sopranistin Anna Netrebko, große Nähe zu Putin sucht, mit ihm und vielleicht auch durch ihn den eigenen Aufstieg geschafft hat, sich jetzt aber nicht von ihm distanzieren kann oder will, sollte nach Möglichkeit so wenig öffentliche Bühne bekommen wie möglich.

Ljudmila Ulitzkaja in Ligurien, hier besitzt sie seit einigen Jahren ein Haus // © Jens Schade/Florianfilm

Wenn wir eine Möglichkeit haben, Menschen wie Ljudmila Ulitzkaja unsere Aufmerksamkeit zu schenken und durch ihre auch jenseits von Krieg und Gewalt überaus lesenswerten Werke einen Zugang zum russischen Volk, seinen Gebräuchen und Traditionen zu erhalten, dann sollten wir diese nutzen. Deshalb gibt es an dieser Stelle – neben der Empfehlung der Dokumentation – abschließend ein Statement von Ljudmila Ulitzkaja zu Putins Krieg, das über den Hanser Verlag zur Verfügung gestellt wurde:

Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden ohne Krieg weiterleben. Bis zu unserem Tod, der, worum wir stets als orthodoxe Christen beten, „friedlich, schmerzlos und nicht peinlich“ sein möge. Aber daraus scheint nichts zu werden. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Ereignisse dieses dramatischen Tages auswirken werden.

Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird.

Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle am heutigen Tag.

Schmerz – weil der Krieg alles Lebendige trifft – das Gras, die Bäume, die Tiere, die Menschen und ihre Kinder.

Angst – weil unser biologischer Instinkt auf die Erhaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Nachkommen gerichtet ist.

Scham – weil offensichtlich ist, dass die Regierung unseres Landes die Verantwortung trägt für diese Situation, die großes Unglück über die gesamte Menschheit bringen könnte.

Die Verantwortung für das, was heute geschieht, tragen aber auch wir alle, die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht vorherzusehen und zu verhindern vermochten. Wir müssen diesen eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch die offiziellen Medien auf unsere Bevölkerung einströmen.

Ljudmila Ulitzkaja

HMS

Hinweis: Das Literarische Colloquium Berlin hat gemeinsam mit ARTE, dem Carl Hanser Verlag und in Kooperation mit literaturhaus.net kurzfristig einen ganz besonderen Abend organisiert: Am kommenden Montag, 28. März 2022, findet um 18:30 eine Vorführung des Dokumentarfilms statt und um 20:00 Uhr eine Lesung aus Alissa kauft ihren Tod. Dazu ein Gespräch mit der Autorin Ljudmila Ulitzkaja höchstselbst, ebenso werden die Autorin und Schriftstellerin Elke Schmitter und die Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt anwesend sein. Infos und Tickets für beide Veranstaltungen (separat zu buchen) gibt es hier (kein Affiliate-Link).

Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja. Die russische Starautorin zeigt arte am 16. März um 22:00; in der arte-Mediathek ist die Dokumentation vom 16. März 2022 bis zum 13. Juni 2022 verfügbar.

Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja. Die russische Starautorin; Dokumentation, Deutschland 2022; Regie: Eva Gerberding; Laufzeit ca. 53 Minuten; eine Produktion im Auftrags des NDR

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