Sammlung eines selbstbestimmten Lebens

Sollte ein Film eine biografische Geschichte erzählen ohne sicher sein zu können, wie akkurat diese ist? Oder sich sogar wagen dürfen, es darauf anzulegen, dass die Nichtnachweisbarkeit einer Liebesbeziehung und der sexuellen Identität, die im Zentrum des Werks steht, manch eine Person verärgert? Sicherlich eine Frage, die jede*r Zuschauer*in spätestens dann ganz subjektiv beantworten wird, wenn es darum geht, das Kinoticket zu lösen oder nicht. Wir finden, auf jeden Fall sollten Filmemacher*innen nicht davor zurückschrecken, eine Möglichkeit zum Dreh-und-Angelpunkt ihrer Erzählung zu machen. Erst recht, wenn dadurch ein so facettenreicher und glänzend anzusehender Film wie Ammonite, der an diesem Donnerstag in den deutschen Kinos startet, entsteht.

Kammerspiel an der Jurassic Coast

Was Regisseur und Drehbuchautor Francis Lee hier in seinem zweiten Langfilm präsentiert, könnte, neben den historisch-biografischen Vorbildern, auf den ersten Blick wie eine abgewandelte Wiederholung seines zurecht gefeierten Erstlings God’s Own Country wirken. Wieder ist der Film ein Wechsel von kammerspielartigen Settings und fantastischen, echt-rauen Naturaufnahmen. Wieder lassen sich die Figuren an einer Hand abzählen und wieder wird jemand in eine Art unfreiwilliges Betreuungsverhältnis gebracht. 

Mary Anning (Kate Winslet) ist Charlotte Murchison (Saoirse Ronan) gegenüber anfänglich noch so kalt wie der Wind der Küste // © TOBIS Film GmbH

Im viktorianischen Zeitalter lebt und arbeitet die geschätzte, aber, da eine Frau, dazu noch eine, die sich ihre Kenntnisse autodidaktisch angeeignet hat, zu Lebzeiten nicht offiziell anerkannte Fossiliensammlerin Mary Anning (Kate Winslet) an der grau-rauen Südküste Englands (in Dorset, einem Gebiet das auch als „Jurassic Coast“ bezeichnet wird), mit ihr lebt ihre kranke Mutter Molly (Gemma Jones, ebenfalls ähnlich in God’s Own Country). Mary Anning sammelt Ammoniten entlang der Steilküste und bereitet diese auf, um sie an Tourist*innen zu verkaufen. Eines Tages schneit ihr Kollege Roderick Murchison (James McArdle) in den Laden und bittet sie gegen Geld auf seine „melancholische“ Frau Charlotte (Saoirse Ronan) aufzupassen, während er auf Forschungsreise geht. Zwar widerstrebt Mary das zutiefst, ist sie doch mehr so die Kategorie Eigenbrötlerin, doch kommt das Geld gelegen. 

Steine statt Schafe

Dieses Mal sind es für Francis Lee statt Schafen also Steine. Und ein sehr wirklicher Hintergrund: Die im Film auftauchenden Menschen gab es wirklich und in der Tat waren Mary Anning und die Murchisons einander bekannt; auch die im Film kurz auftauchende, von Fiona Shaw (Killing Eve) dargestellte Elizabeth Philpot war eine Kindheitsfreundin Annings und ebenfalls Fossiliensammlerin.

Charlotte zeigt Interesse an Marys Arbeit // © TOBIS Film GmbH

Nicht verbürgt hingegen ist die weitere Entwicklung, die der Film nimmt: Die Abneigung Marys gegenüber Charlotte, oder vor allem der Aufgabe, die mit ihr kommt, nimmt nach und nach ab, als Charlotte sie zum Sammeln begleitet, Interesse an der Arbeit zeigt. Zaghafte Momente wachsender Sympathie werden sichtbar, kleine Annäherungen in einer kalten Zeit. Es scheint ein Verständnis zwischen den beiden Frauen zu geben.

Aus dieser Annäherung wächst Leidenschaft, womöglich gar Liebe. Einer aus verschiedenen Gründen natürlich unmöglichen Liebe. Jedoch geht Ammonite hier nicht auf eine homofeindliche Gesellschaft und Justiz ein, sondern bleibt im Kern ganz bei den beiden Frauen und ihren Gefühlen füreinander. Wunderbar begleitet wird die zaghafte, aber stetig stärker brodelnde Annäherung der beiden von einem wunderbaren Score von Dustin O’Halloran und Volker Bertelmann.

Die Abdrücke des Lebens in…

Lee ist trotz teils ausschweifender Aufnahmen immer nah bei seinen Figuren, drängt ihnen die Kamera von Stéphane Fontaine aber auch nicht auf. Doch sehen wir die geschundenen Hände Marys, den tropfenden Löffel der Mutter, die Hautunebenheiten Charlottes. Dadurch wirkt der Film sehr natürlich, was in diesem Setting ganz klar für einen erst recht realistischen Sog sorgt.

Charlotte schmollt, Mary grollt?! // © TOBIS Film GmbH

Erst kürzlich gab Kate Winslet Katja Nicodemus für die Wochenzeitung DIE ZEIT ihre Definition von Sexiness: „Eine Physis zu haben, mit der man eins ist, mit wahrhaftigen Abdrücken des Lebens, Falten, Narben. Es geht darum, das Leben, das man gelebt hat, am eigenen Gesicht, an den eigenen Händen, am eigenen Körper zu sehen und zu zeigen. Das ist für mich Sexiness. Und ganz bestimmt geht es nicht darum, sexy für einen Mann zu sein.“ 

…einer selbstbestimmte Geschichte

Diese Abdrücke des Lebens zeigt Lee in seinem Film ohne falsche Scham; er lässt sie im direkten Bild, aber auch in Ausdrücken und kleinen Gesten, insbesondere im zurückgenommen Spiel Winslets deutlich werden. Nie verfällt er dabei aber in eine überbordende Symbolik, sondern zeichnet so gemeinsam mit den Schauspielerinnen die Persönlichkeiten seiner Charaktere.

Das ist umso wichtiger, da Ammonite in erster Linie auch eine Geschichte des Über- und Weiterlebens, eine Geschichte emanzipatorischer Entwicklungen und erst dann eine Liebesgeschichte erzählt, wenn natürlich auch alles ineinandergreift. Dass diese Liebesgeschichte dabei eine lesbische ist, ist wunderbar. Zuallererst aber ist sie eine selbstbestimmte. 

Was uns wieder zur Ausgangsfrage führt: Soll man oder soll man nicht? Wir meinen ja. Eine entfernte Verwandte Annings unterstützt den Film übrigens, eine andere kritisiert die Wahl sie als lesbisch darzustellen. Wir halten es hier mit Regisseur und Autor Francis Lee, der meint, nachdem so viele queere Figuren der Geschichte durchgehend hetero gemacht worden seien („straightened“) und dass, bei einer Figur, bei der es keinen Hinweis auf eine heterosexuelle Beziehung jeglicher Art gäbe, es doch zulässig sein könne, diese Person in einem anderen Kontext zu sehen? Genau.

Geschichte für die Gegenwart

Eine nachdenkliche Mary // © TOBIS Film GmbH

Dem dürfte auch Kate Winslet zustimmen, die sich im April recht deutlich zu internalisierter Homofeindlichkeit in Hollywood äußerte und nun im ZEIT-Interview nachlegte und sich über zweierlei Maß bei der Beschreibung von Liebesszenen ärgerte. Für LGBT-Liebesszenen würden Wörter verwendet, die für heterosexuelle Liebesszenen nicht genutzt würden. „Für gleichgeschlechtliche Liebesszenen verwendet man immer noch Wörter wie ‚provozierend‘ oder ‚explizit‘. Warum nur? Es ist so altmodisch“, sagt sie dort. „Leidenschaftlich“ und „intensiv“ hingegen seien eher für die Beschreibung heterosexueller Sex- und Liebesszenen reserviert. 

Sie ergänzt: „Würde man genauer auf die Sprache achten, entstünde auch eine andere Normalität von LGBT­ Geschichten. Sie würden viel selbstverständlicher in den Main­stream eingehen.“ Und genau da trifft sie den Punkt, den auch Regisseur und Autor Francis Lee macht, wenn er meint, die Geschichte von LGBTIQ*-Personen wurde immer wieder „bereinigt“, klein gemacht, beiseite gewischt (wie zum Beispiel vor noch nicht allzu langer Zeit Alan Turings Homosexualität in The Imitation Game).

Nicht nur, aber auch, mit diesem Gedanken im Kopf ist Ammonite ein wichtiger und unbedingt empfehlenswerter Film. Die Leistung aller Beteiligter vor und hinter der Kamera lassen uns für zwei Stunden in eine andere Zeit, ein anderes Leben eintauchen und sicherlich noch etwas für die Gegenwart mitnehmen. Geht ins Kino.

AS

Ammonite; Vereinigtes Köngreich, 2020; Regie & Drehbuch: Francis Lee; Kamera: Stéphane Fontaine; Musik: Dustin O’Halloran & Volker Bertelmann; Darsteller*innen: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, James McArdle, Fiona Shaw, Alec Secăreanu; Laufzeit: ca. 118 Minuten; FSK: 12; ab dem 4. November 2021 im Kino

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