Scherbengericht

Keine 48 Stunden sind die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen nun alt und doch ist klar, dass das, was in den beiden östlichen Ländern geschehen ist, eine Zäsur ist. Die Hälfte der Wählerinnen und Wähler hat die Populisten von AfD und BSW gewählt, in Thüringen haben diese rechnerisch sogar eine Mehrheit. In beiden Ländern kann ohne eine dieser beiden Parteien keine Regierung gebildet werden – was, wir erinnern uns, vor gerade einmal zehn Jahren so etwas wie das Minimalziel der CDU war. 

Seien wir also einmal ehrlich: Wir, die demokratische Mitte, haben es doch alle kommen sehen. Seit Monaten warnten alle vor diesen Landtagswahlen, alle kannten die Umfragen, alle waren sich dessen gewahr, was passieren würde. Wirkungsvoll gemacht hat kaum jemand etwas. Oder konnte es vielleicht auch nicht. Denn klar ist aber auch: Die Wählerinnen und Wähler dieser Parteien WOLLTEN das und haben sich bewusst für AfD und BSW entschieden.

Leere Marktplätze und Wahlkampfstände

Mit traditionellen Mitteln wie Wahlkampfständen und Bühnen auf Marktplätzen erreicht mensch heute eben viele Leute nicht mehr – diejenigen, die diese Angebote nutzen, sind überwiegend Stammwähler*innen oder Mitglieder der jeweiligen Parteien, aber um die muss an der Stelle nicht gekämpft werden, wenn das nicht in bemitleidenswerter Selbstbeweihräucherung ausarten soll.

Gerade bei den jungen Wähler*innen, der Generation TikTok hat die AfD gepunktet, aber diese kann von den demokratischen Parteien nicht mehr erreicht werden. Die Wahlkämpfe finden also mittlerweile großenteils online statt und dort sind die demokratischen Parteien schwach. Der AfD-Mann Maximilian Krah – selbst wenn er aktuell nicht mehr Teil seiner Fraktion im Europäischen Parlament sein darf – ist ein TikTok-Star, manch andere auch. Die Aktentasche des Bundeskanzlers scheint die beste Antwort der etablierten Parteien zu sein, ebenso wie Friedrich Merz, der auf der Tanzbühne herumhampelt. Das ist keine Wähler*innenansprache, sondern cringe.

Inhalte sind kein Fetisch

Was fast keine der Parteien mehr hat, sind tatsächliche Inhalte. Erstaunliche Ausnahme ist hier die FDP, die in beiden Ländern keine Rolle mehr spielt, aber im Bund immer Dresche einstecken muss, weil ihr ein „Fetisch“ namens Schuldenbremse zugeschrieben wird. Dabei hat sie damit doch recht: Unsere Bevölkerung vergreist und schrumpft, unsere Wirtschaft stagniert, die Produktion auch, dafür steigen Preise und der Wettbewerbsdruck. Bitte von welchem Geld sollen die Schulden bezahlt werden, die nun aufgenommen und im Idealfall als Investitionen, im wahrscheinlicheren aber als Schweigegeld aka soziale Wohltaten ausgegeben werden sollen?

Die AfD skandiert „keine Migration“, auch wenn die kein wirkliches Problem darstellt, sondern ob der genannten Probleme sogar Probleme lösen könnte. Das BSW bietet „Frieden“, vermag es aber nicht zu sagen, wie der hergestellt werden soll, wenn Putin nicht reden WILL und verheddert sich ansonsten in Widersprüchen. Das sind alles keine plausiblen Inhalte, aber mit diesen scheinbar simplen Lösungen und der Anti-Establishment-Rhetorik sind sie die einzigen, die noch Marktplätze füllen. Fast alle demokratischen Parteien laufen reflexhaft mit oder vielmehr hinterher und verpassen es, eigene Lösungen, eigene Markenkerne, eigene Themen, die die Menschen wirklich bewegen zu formulieren. 

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Menschen diffuse Ängste haben und einige damit auf Stimmenfang gehen. Die SPD kramt nun das Tariftreuegesetz aus der Schublade, das vor drei Jahren vielleicht mal in den Koalitionsvertrag geschrieben, aber danach eingemottet wurde. So wünschbar es wäre, würde die öffentliche Hand daran gebunden, dass sie öffentliche Aufträge nur an Unternehmen mit Tarifbindung vergibt, glauben Kevin Kühnert und Co. tatsächlich, dass das die Leute auf dem Marktplatz von Freital tatsächlich von ihrer Wut abbringt? 

Die Wut nämlich, die ist in den Menschen, genau wie die Angst vor dem (weiteren) Abstieg. Hillary Clinton hat sie vor acht Jahren als „deplorables“, als „Bemitleidenswerte“, bezeichnet und ihrer Kampagne damit wohl den Todesstoß versetzt. Wir haben mehrere Worte dafür, eines davon ist „Ossi“. Wir haben rhetorisch unsere eigene Klasse von „Bemitleidenswerten“ geschaffen, die niemand mehr ansprechen kann und über die wir rückblickend sagen können, dass wir vielleicht sogar ein wenig dankbar über die niedrigen Wahlbeteiligungen vor noch zehn Jahren sein können.

Erkennen und benennen

Wie erreichen wir diese Menschen (wieder)? Ich weiß es nicht. Wüsste ich es, ich würde mich im politischen Berlin und den Landeshauptstädten teuer als Berater verdingen. Vermutlich ist es wichtig, erst einmal das tatsächliche Problem zu erkennen, zu benennen und nicht den Nebelkerzen von AfD und BSW hinterherzulaufen.

Die FDP zeigt mit dem Festhalten an der Schuldenbremse Ansätze, reißt das aber mit unsinnigen Papieren zur Autoförderung wieder ein. Die CDU hat ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das Wischiwaschi ist, kein wirkliches Profil bildet und einen Vorsitzenden, der für die Probleme von morgen die Lösungen von gestern bereithält. Ach ja, und der aus gekränktem Ego seit 20 Jahren darauf lauert, jetzt endlich Kanzler zu werden, sich dabei aber gegen den Wadenbeißer aus München durchsetzen muss.

Scheinwelt statt Herzkammer

Die SPD war vor 100 Jahren die Partei der Arbeiter*innen, hatte sogar ihre Herzkammer in Sachsen und Thüringen, lebt heute aber in ihrer Scheinwelt, in der sie ihre Wählerschaft an die Populisten verlor, dies jedoch noch nicht gemerkt hat. Beim Kanzler wurde Führung bestellt, aber die scheint seit der Havarie der Ever Given immer noch vor dem Suezkanal festzustecken.

In der Außenpolitik treiben ihn verbrämte Pazifisten wie Rolf Mützenich, der nur durch den politischen Zufall vor einigen Jahren in eine Position gespült wurde, in der er nun lauthals seinen Murks öffentlichkeitswirksam herauskrakeelen kann. Fähige Leute wie Michael Roth, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, geben enerviert auf und treten nächstes Jahr nicht mehr an. Die SPD ist bereits in der Bedeutungslosigkeit versunken, merkt es jedoch nicht. Die Parteien der kleinen Leute, die sie immer glaubt zu sein, sind nun AfD und BSW.

Es braucht Entscheidungsmut

Es blieben die Grünen, die mit dem Klimawandel und der Transformation der Gesellschaft die wichtigsten Themen ansprechen. Nur ist das unbequem. SPD und FDP bremsen sie aus, die Union will nicht mit der Ökopartei koalieren und im Osten wurden sie nun abgestraft. Als einzige scheinen sie aber zumindest halbwegs bereit, sich unangenehmen Wahrheiten zu stellen, Forderungen zu erheben und diese einzuleiten. 

Und hier ist das eigentliche Problem, das in den letzten Zeilen schon immer durchschien: Wir stehen vor massiven Veränderungen, die allen Angst machen, gerade denen, die aber ohnehin wenig haben, wohl am meisten. Diese Menschen haben oft resigniert und laufen den Demagogen hinterher, weil sie sich von denen gehört FÜHLEN – selbst wenn diese keine Lösungen anbieten.

Hier müssten die demokratischen Parteien ansetzen: unangenehme Wahrheiten benennen, noch unangenehmere Maßnahmen einleiten und die Leute „mitnehmen“. Und die wiederum müssten die Bereitschaft haben, Veränderung zuzulassen. Das ist ob der nachvollziehbaren Verlust- und Abstiegsängste sehr schwierig, aber genau hier müssen Politik und Gesellschaft ansetzen und den Menschen diese Ängste nehmen.

HMS

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