Als ich vor wenigen Wochen in Schottland war, sah ich die Forth Road Bridge, ein Ungetüm, das sich nahe Edinburgh über eine Art Flussmündung erstreckt. Vor zehn Jahren, als ich noch dort lebte, empfand ich das Ungetüm jedes Mal als Zumutung, wenn ich an ihr entlangfuhr. Dieses Mal erkannte ich, welche Baukunst in diesem Brückenbauwerk stecken – und vor allem, wie viele Tonnen Stahl, Beton und Schweiß.
Die Forth Road Bridge ist ein nur wenig bekanntes Meisterstück der Ingenieurskunst, der Eiffelturm in Paris eigentlich kein Vergleich – und doch weit bekannter. Ähnlich ist es mit den Grundzügen unserer Wirtschaft: Alle sprechen heute über die digitale Wirtschaft, die Facebooks, Apples, Googles, Amazons und Teslas dieser Welt. Die reale Welt und Wertschöpfung aber, die verlieren nicht nur Gamer*innen aus den Augen, sondern viele von uns.
Willkommen in der materiellen Welt
Diese „materielle Welt“, wie der britische Journalist und Autor Ed Conway sie nennt, bildet die Grundlage für alles, was im Digitalen geschehen mag. Und doch haben sich die meisten von ihr und den physikalischen Grundlagen unseres Lebens entkoppelt, verstehen diese Zusammenhänge nicht mehr. Ohne so scheinbar profane Stoffe wie Glas, Beton, Autos oder Dünger wäre selbst ein anspruchsloses Leben nur schwer vorstellbar.
Grund genug also, sich mit diesen Grundlagen zu befassen. In seinem Buch Material World, erschienen hierzulande in der Übersetzung von Sebastian Vogel (der lustigerweise vor einigen Jahren auch ein Buch über die gefiederten Lebewesen übersetzte) bei Hoffmann und Campe, widmet er sich sechs Stoffen, ohne die unsere Welt nicht funktionieren würde – und auch in Zukunft nicht funktionieren wird, egal wie sehr sie ins Metaversum oder wohin auch immer verlegt sein mag.
Glasklar(?)
Sand, Salz, Eisen, Kupfer, Öl und Lithium sind die sechs Stoffe, die Conway in jeweils drei bis vier Kapiteln abhandelt und sich dabei jeweils der Geschichte ihrer Nutzung, der Einsatzmöglichkeiten, der Gewinnung und spezifischer Besonderheiten widmet. Während Eisen oder Kupfer wenig überraschend auf dieser Liste stehen, sind Sand, Salz oder Lithium vielleicht nicht die ersten Dinge, die uns in den Kopf kommen, wenn es um die wichtigsten Stoffe der Welt geht.
Gerade hier macht Conway jedoch schnell klar, warum all diese Materialien so essenziell für unser tägliches Handeln sind. Er geht dafür an die Orte, an denen es schmutzig ist und stinkt und zeigt uns, welche bewegende und oft dreckige Geschichte die Stoffe haben, die wir in unseren Smartphones, Telefonkabeln oder einfach nur in unseren Wänden und Trinkgläsern finden, ohne die jedoch ein modernes und zivilisiertes Leben für viele Menschen nicht denkbar wäre.
Salz in die Wunde
Das ist äußerst eindrucksvoll, liefert es uns doch eine Perspektive, die wir allzu häufig nicht einnehmen wollen. Alle gucken in den letzten Jahren auf die Digitalwirtschaft, die uns ohne Zweifel großen Fortschritt gebracht hat, aber die eben ohne die Stoffe der materiellen Welt keine Basis hätte.
Und vor allem zeigt sie uns, wo wir heute am verwundbarsten sind. Dass ein kleines Virus, ein einziges querliegendes Schiff oder ein nach Größenwahn strebender Diktator unsere globalen Lieferketten empfindlich treffen kann, verdrängen viele von uns. Und doch haben die letzten fünf Jahre gezeigt, dass all diese Szenarien keine Utopien sind, sondern schneller Realität werden können, als es uns lieb sein kann.
Schmutzig und schmierig
Material World hat in dieser Hinsicht also vor allem eine desillusionierende Wirkung und eine, die zu mehr Demut und Umsicht leitet. Der Bergbau ist ein schmutziges Geschäft und wir gehen mit den Ressourcen oft recht sorglos um. Öl und fossile Brennstoffe beispielsweise – auch hier die desillusionierende Wirkung von Ed Conways Ausführungen – werden wir noch lange brauchen. Nur dürfen wir sie nicht einfach verheizen, sondern sollten sie sinnvoll einsetzen.
Es ist gerade vor diesem Hintergrund folgerichtig, dass Conway in seinem letzten Kapitel auf Möglichkeiten des Recyclings eingeht, die wir teils noch gar nicht haben. Der Fortschritt, das wird bei ihm immer wieder mindestens subtil klar, hat uns dazu gebracht, einerseits effizienter mit unseren Ressourcen umzugehen, andererseits erliegen wir auch immer wieder der Versuchung, gerade dann mehr zu verbrauchen. Ähnlich spannend übrigens auch beim Konfliktrohstoff Kobalt, den Conway auch auf seinen letzten Seiten noch kurz erwähnt.
Radioaktivität ist unsichtbar
So gut und aufschlussreich sein Buch sein mag – und es gehört definitiv zu den besten, die ich in diesem Jahr gelesen habe – zwei Punkte sind mir dennoch aufgefallen. Punkt eins dreht sich um die Kernkraft. Unabhängig von der Tatsache, dass Conway radioaktive Stoffe quasi ausblendet, spricht er sich gegen Ende seines Buchs doch eindeutig für die Nutzung der Kernkraft aus.
Wir mögen in Deutschland eine etwas eigene Position in dieser Angelegenheit einnehmen, aber dennoch sind die Gefahren und das ungelöste Endlagerproblem bis heute nicht wegzudiskutieren. So augenöffnend Material World ansonsten ist, hier ist Conways Argumentation erstaunlich einseitig und ignoriert diese Probleme.
Alles im festen Zustand
Zweitens: Die Auswahl der sechs Materialien, die Conway behandelt, mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, ist es aber nicht, wie die Lektüre zeigt. Klar, es ginge immer mehr – Holz oder Uran böten sich an –, aber dies adressiert der Autor bereits in seinem Vorwort. Einen Stoff gibt es allerdings, den Conway in jedem Kapitel adressiert, aber der keine detailliertere Auseinandersetzung erfährt.
Vielleicht liegt es daran, dass es sich – anders als bei den sechs behandelten Materialien – nicht um einen Feststoff handelt, sondern um scheinbar banales Wasser. Allerdings zählt auch Wasser zu diesen essenziellen Stoffen: bei der Reinigung von Siliziumwafern, bei der Nutzung von Sole, der Gewinnung von Kupfer, Eisen und Lithium oder der Raffination von Öl geht nichts ohne Wasser. Dass er in seinem unglaublich eindrücklichen Einblick in die Welt der Werkstoffe unseres Planeten ausgerechnet das Wasser unbehandelt lässt, dürfte eine bittere Ironie sein.
Heilmittel – auch ohne Salze
Und doch ist dieser Lapsus heilbar. Zu Wasser und seiner Bedeutung gibt es sehr viel Literatur – anders als zu vielen der weiteren behandelten Stoffe. Ed Conways Material World ist aktuell nominiert als Wirtschaftsbuch des Jahres sowie in der Kategorie Überblick als Wissensbuch des Jahres. Für den letzteren steht auch Durstiges Land von Susanne Götze und Annika Joeres auf der Liste und auch wenn dieses Buch einen anderen Ansatz verfolgt, zeigt es doch eindrücklich, welche Bedeutung das Wasser für uns hat.
Abgesehen davon ist Material World ein extrem lehrreiches und fesselndes Buch, das uns über die Grundlagen unseres Wirtschaftens, unserer Gesellschaft und dessen, was wir als modernes Leben informiert. Das Cover in der englischen Originalversion ist zwar deutlich ansprechender als das deutsche, aber was zählt, ist der Inhalt. Und der ist hier so umfang- wie aufschlussreich. Ähnlich wie bei der Forth Road Bridge verbirgt sich hier ein kleines Juwel zwischen zwei Buchdeckeln.
HMS
PS: Das Cover der englischen Buchausgabe sieht so aus:
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen; Januar 2024; Aus dem Englischen von Sebastian Vogel; 544 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-455-01692-5; Hoffmann und Campe; 26,00 €
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