So edel geht nichts vor die Hunde

Hinweise: Leichte Spoiler zum Verlauf von Cruella enthalten.

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Es ist ja immer so eine Sache mit diesen Entstehungsgeschichten von berühmten, vertrauten und/oder berüchtigten, kultigen und etablierten Charakteren, insbesondere wenn die Figur in jener Origin Story losgelöst vom bekannten Material und den sie sonst umgebenden Charakteren agiert. Das kann ordentlich nach hinten losgehen, es kann ganz okay ausfallen oder auch einer Erzählwelt (oder unternehmerischer: einem Franchise) ordentlich Feuer geben. Bei dem langerwarteten neuen Disney-Film Cruella ist letzteres der Fall. Ein spannendes und stylisches Filmfeuerwerk, das hier auf die Zuschauer*innen losgelassen wird.

Schwere Kindheit…

Die Geschichte soll hier nur kurz umrissen werden, da die Art und Weise, wie sie sich nach und nach im Wortsinne entfaltet, einen wesentlichen Teil des Charmes von Cruella (der über Disney+ gestreamt werden oder im Kino geschaut kann) ausmacht, eben da sie an mancher Stelle ein wenig antizyklisch verläuft. Estella wächst bei ihrer Mutter Catherine (Emily Beecham) auf und ist schon als Kind und junges Mädchen eine ganz eigene Person, nicht zuletzt auch wegen ihrer Poliosis. Aber auch, weil sie bei aller Kreativität eine zwar selbstbestimmte aber ebenso grausame Seite an sich hat. Als ihre Mutter durch einen unschönen Vorfall ums Leben kommt, ist Estella auf sich gestellt, findet jedoch schnell in den Brüdern Jasper und Horace Badun eine neue Familie. Ihr Überleben sichern die drei durch kleinere Gaunereien. 

Gute Praktikantinnen sind schwer zu finden… // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

Die Kreativität und Lust an Mode lässt Estella, mittlerweile eine junge Frau, jedoch nicht los. Jasper besorgt ihr einen Job im Liberty Kaufhaus. Hier trifft sie auf Modedesign-Ikone Baroness von Hellman, die Estellas Talent entdeckt und sie unter ihre Fittiche nimmt. Doch schnell wird klar: Die Baroness ist nicht nur eine toughe Modeschöpferin, sondern womöglich auch eine Killern – etwa auch die von Estellas Mutter? So kommt es, dass Estella, um nicht in der Gunst der Baroness zu sinken oder sich selber verdächtig zu machen, eine andere Persona erschaffen muss. Das stärkt auch die düstere Seite in ihr zunehmend und Cruella wird lauter, wilder und entschlossener.

Zugegeben: Auch ohne enthusiastischer Fan der 101 Dalmatiner-Geschichten zu sein, war die Skepsis doch groß, dass die ganze Geschichte ein recht entsetzliches Desaster werden könnte, insbesondere als zu lesen war, dass Kelly Marcel an einer Überarbeitung des Drehbuchs mitwirkte, war sie doch auch an Venom beteiligt, seinerseits eine dieser eher missratenen Origin Stories. Doch ist auch Tony McNamara beteiligt, der The Favourite und The Great schrieb. Und natürlich sind sowohl Trickfilm, als auch der 1996er mit Glenn Close als Cruella de Vil durchaus Kult. Close ist hier übrigens als Ausführende Produzentin mit an Bord, was Cruella schon einmal ein wenig mehr Reverenz-Kraft gibt. Das ist natürlich alles Theorie, aber was soll’s.

…aber sie können die Zukunft sein! // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

…unterhaltsame Geschichte…

Dennoch nun mal rein in die Praxis. Da weiß Cruella zuallererst einmal mit einer wie erwähnt etwas anders als erwartet verlaufenden Geschichte aufzuwarten (auch wenn es natürlich die eine oder andere vorhersehbar-unvorhersehbare Wendung gibt), die vor allem durch ihre unbedingte Konsequenz auch Disney-Muffel hinterm Ofen hervorholen dürfte. Zwar mögen manche Handlungselemente zuerst ein wenig chaotisch wirken, doch letztlich fügt sich das alles ganz fein.

Miranda Priestley? Nein die Baroness von Hellman // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

So haben wir hier eine ordentliche Der Teufel trägt Prada– und The Factory-Atmosphäre auf der einen, einen Revenge– oder gar Gotham-Faktor auf der anderen Seite, gepaart mit ein wenig Der Pate. Das ist im besten Sinne chaotisch und sorgt vor allem für ungemein kurzweilige gut zwei Stunden Filmzeit. 

So begeistert es ziemlich, dass die verschiedenen Ebenen recht gleichberechtigt funktionieren und wir zwar wissen, dass es Estella/Cruella schließlich auch um Rache an der Baroness geht, doch wachsen mit der Wut auch ihr Ego und ihre Lust auf eigenen Erfolg als Modeschöpferin. So ist der Kampf um die Aufmerksamkeit der Modewelt und die Grandezza in dieser, den die beiden um ihren Platz in der Gesellschaft ringenden Frauen austragen, mindestens ebenso spannend wie die Rachegeschichte als solche. Es gibt eine fabelhafte Szene, in der Baroness von Hellman einen Erfolg gemeinsam mit Estella begießen will. Der Streit, aber auch die gegenseitige Anerkennung, die die beiden hier teils nur mit Blicken und verzogenen Mundwinkeln austragen – für die Ewigkeit. Das liegt natürlich primär an einer famos auftrumpfenden Emma Thompson als hintertriebene, aber auch hell- und zumeist weitsichtiger Baroness und einer ebenfalls starken Emma Stone, die hier vollends zu überzeugen weiß (was ihr nicht immer gelingt, wie wir meinen), gerade in dieser Szene, in der sie sowohl Estella als auch Cruella hervortreten lässt. 

„Entschuldigung? Wer bist Du?“ // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

…famose Kostüme und Musik…

Wesentlich für die verspielte Glaubwürdigkeit des Films sind natürlich auch die Kostüme – jene, die getragen und jene, die an Mannequins vorgeführt werden, gleichermaßen. Zu verdanken haben wir die teils furios allem anderen die Show stehlenden Outfits der zweimaligen Oscar-Gewinnerin Jenny Beavan (für Zimmer mit Aussicht und Mad Max: Fury Road), neben Sandy Powell (die für ihre Kostüme im Emma Stone-Film The Favourite für den Oscar nominiert war) eine der sicherlich großartigsten Kostümbildnerinnen.

Darüber hinaus die Musik. Zum einen der augenzwinkernd bombastische Score vom exzellenten Nicholas Britell (Succession, The King). Zum anderen der eigentliche Soundtrack, der passend zur Geschichte, die in einer der entscheidenen und wegweisenden Zeiten für Mode in den 60er- und 70er-Jahren angesiedelt ist, Songs unter anderem von Supertramp, Nina Simone, Blondie, den Bee Gees, The Clash, Queen und den Rolling Stones bietet. Plus des für den Film geschriebenen Songs „Call Me Cruella“ von Florence + The Machine (komponiert ebenfalls von Britell) und einer von Nebendarsteller John McCrea neu eingesungenen Version von „I Wanna Be Your Dog“.

…etwas Queerness…

McCrea, bekannt aus dem Musical Everybody’s Talking About Jamie, spielt hier übrigens Artie, einen flamboyanten jungen Mann mit starker David-Bowie-Ziggy-Stardust-Schwingung, der Estella eine große Hilfe und Stütze ist. Quasi Familienerweiterung zu Jasper und Horace. Ebenfalls ist Artie der erste offen schwule Charakter in einer Disney-Realverfilmung. Wobei das mit gewisser Vorsicht zu genießen ist, denn, dass er queer oder schwul ist, wird im Film nie gesagt. Der offen schwule McCrea selbst aber sagt beispielsweise: „Für mich ist es offiziell – Artie ist queer.“ 

Modisch immer ganz vorn: Cruella (im Shop von Artie) // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

Die aus der ursprünglichen 101 Dalmatiner-Version bekannten Jasper und Horace sind hier in der Tat mehr Mensch und weniger einfach nur Erfüllungsgehilfen und von Joel Fry (Benjamin) und Paul Walter Hauser mit dem nötigen Gefühl gespielt. Kirby Howell-Baptiste als ehemalige Schulfreundin Estellas und Klatsch- und Moderedakteurin Anita „Tattletale“ Darling überzeugt ebenso und in einer in der Entwicklung befindlichen Fortsetzung mehr von ihr zu sehen, würde uns durchaus freuen. Was möglich scheint, bekommt sie doch in einer Szene im Abspann Dalmantinerhündin Perdita.

Um es in diesem Punkt mal abzukürzen: Die Besetzung ist bis in die kleinste Nebenrolle gelungen. Charakterdarsteller*innen wie Mark Strong und Emily Beecham oder aufstrebende Schauspieler wie Andrew Leung oder eben John McCrea machen Cruella zu einem darstellerischen Hochleistungsformat, auch neben Thompson (die hierfür durchaus einige Nominierungen verdient hätte) und Stone.

…und viel Spannung

Zuletzt ist natürlich der action- und spannungsreiche Handlungsteil zu erwähnen, der bei allem Glamour und Zicken à la Dynasty auf keinen Fall zu kurz kommt und von Regisseur Craig Gillespie (I, Tonya) ebenso überzeugend inszeniert und integriert ist wie der Rest. Da gibt es rasant-witzige oder absurde Momente und jene, in denen die Spannungsschraube ordentlich angezogen wird und wir mitfiebern, auch wenn wir im Grunde wissen könnten, wie der Moment ausgehen sollte. Das steigert das Vergnügen natürlich. Ein wenig irritiert waren wir an mancher Stelle, dass Cruella eine Altersfreigabe ab sechs Jahren hat, geht es doch manches Mal recht robust zu. Andererseits: Sie hatte es auch nie leicht im Leben. Passt.

Nur Stress im Alltag! // © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved

Eine Fortsetzung soll laut Thompson und Stone dann übrigens im Stil des zweiten Teils des Paten gehalten sein und gleichsam als Fortführung wie auch Vorgeschichte funktionieren. Das dürfte spannend werden und hoffentlich ähnlich unterhaltsam, verführerisch und punkig daherkommen wie diese Cruella-Geschichte. In der wir übrigens kurz vor Ende an einem Grab stehen, aber noch lange nicht bei Cruella de Vil sind, wie sie aus den vorhergehenden Geschichten bekannt ist. Es gibt noch viel zu erzählen. Super!

AS

Cruella ist auf Disney+ mit VIP-Zugang verfügbar (ab dem 27. August auch im regulären Disney+-Abo) und läuft in einigen Kinos.

Cruella; USA, 2021; Regie: Craig Gillespie; Drehbuch: Aline Brosh McKenna, Jez Butterworth, Dana Fox, Kelly Marcel, Tony McNamara, Steve Zissis; Musik: Nicholas Britell; Kamera: Nicolas Karakatsanis; Darsteller*innen: Emma Stone, Emma Thompson, Paul Walter Hauser, Joel Fry, Mark Strong, Emily Beecham, Kirby Howell-Baptiste, John McCrea, Andrew Leung, Jamie Demetriou, Kayvan Novak; Produzent*innen: Andrew Gunn, Marc Platt, Kristin Burr; Laufzeit: ca. 134 Minuten; FSK: 6; seit 28. Mai 2021 auf Disney+ mit VIP-Zugang verfügbar

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