Spät kommt es, doch da ist es: das Selbstbestimmungsgesetz tritt in Kraft

„Dank“ Allerheiligen gilt heute in katholischen geprägten Gegenden des Landes das Tanzverbot. Das dürfte einige Menschen allerdings nicht davon abhalten, erleichtert bis fröhlich durch die Gegend zu tanzen. Denn heute, am 1. November 2024, tritt endlich das lang ersehnte, mühsam erkämpfte und zu Unrecht von rechts-konservativen bis extremen Kreisen und zu Recht von Teilen der queeren Community kritisierte Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft. Deutschland ist damit das 17. Land weltweit, das ein solches Gesetz zur Verwirklichung der Geschlechtsidentität einführt.

Das SBGG löst das so genannte Transsexuellengesetz, das zu Beginn der 1980er-Jahre in Kraft trat und vom Bunderverfassungsgericht in Teilen immer wieder als verfassungswidrig eingestuft wurde, ab. Was dieses für trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen bedeuetete und wie demütigend es war, haben wir sowie unsere Gastautorin Nora Eckert in zahlreichen Rezensionen und Kommentaren geschildert. Dank des SBGG ist es nun unter anderem möglich den Vornamen und Geschlechtseintrag vergleichsweise einfach ändern zu lassen.

Weg von Diskriminierung hin zu Grundrechten

Wo bisher zwei psychiatrische Gutachten und ein Gerichtsentscheid nötig waren, muss nun lediglich ein Antrag beim Standesamt eingereicht werden, es folgt eine dreimonatige Wartefrist, um nicht ernst gemeinten Änderungswünschen vorzubeugen. Nach diesen drei Monaten kann der eigentliche Antrag eingereicht werden, was wiederum unbedingt innerhalb von drei weiteren Monaten nach der Sperrfrist geschehen muss. Ansonsten erlischt die Anmeldung. Nach der Änderung gilt schließlich eine Sperrfrist von einem Jahr.

Sven Lehmann, Queerbeauftragter der Bundesregierung

Anmeldungen waren bereits seit dem 1. August 2024 möglich, was laut einer Umfrage der Nachrichtenagetur dpa in Berlin bereits über 1 200 Menschen taten. In Essen seien Termine bis in den Februar 2025 ausgebucht, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet. „Hochrechnungen zufolge haben sich bereits ungefähr 15.000 Menschen für eine Erklärung nach dem Selbstbestimmungsgesetz angemeldet“, schreibt gar der LSVD* – Verband Queere Vielfalt in einer Pressemitteilung. Dieser hohe Nachholbedarf zeige auf, wie lange die Menschen gewartet haben, um das entwürdigende und kostenintensive „Transsexuellengesetz“ zu vermeiden. Anträge bei Gerichten seien zuletzt rückläufig gewesen.

Die Kernpukte des SBGG

Dies unterstreicht nur, wie dringend auf das SBGG gewartet worden ist. Endet mit diesem doch, jedenfalls auf dem Papier und im bürokratischen Umgang, die Pathologisierung trans*, inter und nicht-binärer Personen. Das Recht auf das eigene Sein wird so, zumindest in Teilen, wiederhergestellt.

Dies die Kernpunkte des Gestzes, auf die die Ampelkoalition sich geeinigt und mit dem sie ein zentrales queerpolitisches Koalitionsversprechen eingelöst hat:

  • Volljährige Personen können ihren Geschlechtseintrag – männlich, weiblich, divers – künftig mit der oben erwähten Erklärung beim Standesamt ändern.
  • Jugendlich zwischen 14 und 17 Jahren können mit Einverständnis der Eltern ebenfalls eine Erklärung abgeben. Ebenso müssen sie versichern, beraten worden zu sein.
  • Für Menschen unter 14 Jahren müssen die gesetzlichen Vertreter die Erklärung einreichen.
  • Die dreimonatige Wartezeit gilt für alle drei Optionen wie auch die einjährige Sperrfrist, bevor der Geschlechtseintrag erneut geändert werden kann.

Ebenso sei angemerkt, dass, anders als von manch Kritiker*innen fälschlicherweise behauptet, das Selbstbestimmungsgesetz keinerlei Auswirkungen auf medizinische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung hat. Pubertätsblocker, Hormone und andere Mittel wie auch operative Optionen sind nicht Teil des SBGG. Hierfür gibt es Leitlinien, die aktuell aktualisiert werden (sollen).

Transfeindlichkeit und Falschinformationen

Sven Lehmann spricht im Tagesspiegel davon, dass die Gesetzgebung „ein hartes Stück Arbeit“ gewesen sie, die „leider von transfeindlicher Stimmungsmache und einer Menge Fehlinformationen begleitet war“. Das wissen nicht nur Leser*innen der the little queer review.

Erschreckend populistisch äußerte sich etwa die stellvertrende Unions-Fraktionsvorsitzende Dorothee Bär. Die Bundesregierung habe ein weiteres Ideologieprojekt rücksichtslos durchgepeitscht. Gegenüber dem RND verstieg sich die CSU-Politikerin gar zu der Aussage, das Gesetz vermische „Biologie und Ideologie. Gerade für Kinder und Jugendliche halte ich das für gefährlich. Das Selbstbestimmungsgesetz bestärkt sie in ihrer altersbedingten Unsicherheit.“

Derlei Äußerungen zeigen zweierlei: Der teils menschverachtende Populismus in Teilen der Union scheint pathologisch und von der Lebensrealität queerer Menschen, insbesondere trans*, inter und nicht-binärer (Jugendlicher) hat mensch dort keine Ahnung. Und zu interessieren scheint sie auch nicht.

Möglicher Missbrauch? Eher weniger

Ebenso äußern sich neben der Union und AfD auch manche Feministinnen skeptisch, warnen etwa vor Missbrauch und fürchten Gefahren für Mädchen und Frauen etwa in Umkleidekabinen oder Frauenhäusern. Diesen (aufgepeitschten) Ängsten begegnen die Liberalen Schwulen, Lesben, Bi, Trans und Queer (LiSL) in der FDP: Im Gesetz seien alle Eventualitäten berücksichtigt, um Missbrauch, insbesondere durch Cis-Männer, zu verhindern.

Justizminister Marco Buschmann (FDP) hält diese Befürchtugen ebenfalls für konstruiert oder einen extrem seltenen Einzelfall, wie das RND berichtet. Zudem gelte weiterhin das private Hausrecht, so garantiere ein geänderter Geschlechtseintrag mitnichten Zugang zu geschützten Räumen.

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es in die Debatten um das Gesetz zu sehr um jene „möglichen und undenkbaren Missbrauchsmöglichkeiten“ gehe und eben nicht um die Lebenswirklichkeit der Menschen. Genau wie der Queerbeauftragte Sven Lehmann sieht auch Ganserer zudem Nachbesserungsbedarf, etwa bei der Bedenkzeit sowie der Sperrfrist.

Entschädigung und Artikel 3 (GG)

Auch bleibe das Gesetz hinter den Forderungen der Zivilgesellschaft zurück, wie Julia Munro aus dem LSVD*-Bundesvorstand erklärt:

Diesen Forderungen können wir uns nur anschließen.

Die Feministinnen Anne Wizorek und Daniela Antons sehen im Gesetz(esentwurf) „Vorurteile, Hass und Hetze zementiert“ und haben eine Peition gestartet. In dieser fordern sie mit „über 350 feministische[n] Autor*innen, Creator*innen, Jurist*innen, queere, trans*, inter und nicht-binäre Vereine und Fachverbände, Frauenhäuser sowie führende Vertreter*innen  der Frauenverbände und Gleichstellungsarbeit […]: Streichen Sie die Misstrauensparagrafen!“

Erste Schritte und ein anderer Ton

So ist das heute in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz in unseren Augen ein wichtiger, überfälliger Schritt. Aber eben erst der Erste. So sollten Teile, die nur der Beschwichtigung Verschwörungsmythen schwurbelnder Reaktionärer und stimmungsmachender Populisten dienen, der Lebensrealität Betroffener angepasst werden. Der Blick auf medizinische und operative Möglichkeiten sollte nicht länger kleingehalten werden.

Zu guter Letzt sollten nicht nur queere Menschen und Medien dafür einstehen müssen, dass die Debatte in gemäßigteren Bahnen verläuft. Das ist auch Aufgabe einer engagierten Zivilgesellschaft wie von Verbänden und Politiker*innen. Mit Blick auf Einlassungen von Marco Buschmann, Familienministerin Lisa Paus (Die Grünen) oder auch der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) scheint dies immerhin mehr und mehr durchzudringen.

QR

Das Cover zu Wir sind wir

PS: Pasend zum Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes ist gestern, völlig Halloween-unabhängig, bei Fischer Sauerländer der Sammelband Wir sind wir – Junge trans* Menschen erzählen erschienen. Herausgegeben von Kobai Halstenberg stellt der Band laut Verlag „eine Sammlung berührender und starker Porträts über 18 trans* Personen, die in langen Gesprächen mit der Autor*in von ihren Erfahrungen erzählen, tief persönlich, voller Hoffnung und Mut. Sie sprechen von Ausgrenzung und Diskriminierung, aber auch von Kraft spendenden Begegnungen, Akzeptanz und dem Glück, sie selbst zu sein“ dar.

Bei einem ersten Blick ins Buch stechen die praktsiche Aufmachung und die Illustrationen von Vanessa Mundle ins Auge. Ebenso die Auflistung diverser Anlaufstellen und ein ausführliches Glossar. Unsere Besprechung zum Sammelband lest ihr im November.

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