Die Nahrungskette. Im Tier- und Pflanzenreich fressen die Großen die Kleinen. Sie suchen sich ihre Opfer meist selbst. Es ist eine Kulturtechnik des Menschen, dass er begonnen hat, seine Speisen zuzubereiten. Oder heute vielfach zubereiten zu lassen. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diejenigen, die das Essen zubereiten oft selbst ganz unten in der (übertragenen) Nahrungskette stehen. Vor allem bei Hausagestellten ist dies der absurde Fall.
Während „die Haushälterin“ hierzulande mittlerweile eher selten ist, ist sie in anderen Gegenden der Welt noch gang und gäbe. In Asien traf ich einige, vor zehn Jahren in Brasilien lebte ich sogar für ein paar Wochen in einem Haushalt, in dem es eine „maid“ gab. Wie diese und andere Vertreterinnen (und wenige Vertreter) ihrer Klasse von ihren Hausherrinnen und -herren behandelt wurden, irritierte mich bereits damals.
Ein antiquierter Job
Der Job der Haushälterin oder Dienstmagd wirkt irgendwie antiquiert, ebenso wie das Verhalten, das so manche machtgefällige Hausherrinnen und -herren ihnen gegenüber an den Tag legen. Von ihrer siebenjährigen Tätigkeit im Haushalt einer chilenischen Familie erzählt die Protagonistin in Alia Trabucco Zeráns Roman Mein Name ist Estela. Dieser ist in der Übersetzung von Benjamin Loy bei Hanser Berlin erschienen.
Estela wird kurz vor der Geburt von deren Tochter von einem wohlsituierten Paar aus der chilenischen Hauptstadt Santiago engagiert. Ihre Aufgaben umfassen den gesamten Haushalt und sobald das Kind da ist, dessen Pflege und zu großen Teilen auch seine Erziehung, denn beide Eltern sind vielbeschäftigt.
Der Tod kommt zu Beginn
So putzt, kocht, wäscht Estela, kauft ein, kümmert sich um den Haushalt, den Garten und alles, was im Haus so anfällt. Sie beginnt ihre Geschichte jedoch auch direkt mit deren Ende: Das Mädchen ist tot. Wie es zu diesem Umstand kam, ist das große Ziel, auf das die Erzählerin Estela im Lauf der Geschichte hinarbeitet.
Estela, so scheint es zu Beginn, befindet sich in einem Verhör. Nachvollziehbar, dennn wenn das Mädchen ums Leben gekommen ist, müssen die Umstände geklärt werden. Während des gesamten Buchs erzählt also nur Estela, es gibt keine direkte Rede, höchstens eine erlebte Rede. Estela ist die Herrin des Verfahrens und sie scheint diese Machtposition zu genießen. Sie gibt an, alles erzählen und nicht lügen zu wollen. Nach Jahren der Knechtschaft scheint sie sich wohlzufühlen in dieser Rolle. Heike Warmuth, die das Hörbuch für den Argon Verlag eingelesen hat, leiht Estela hier ganz vortrefflich ihre eindringliche Stimme.
Eindringlich, zu eindringlich
Eindringlich ist auch ein passendes Wort für die inhaltliche Bewertung. Estela nimmt den Faden an mehreren Stellen auf, erzählt eine multiperspektivische Geschichte. Es gibt immer wieder Details, die sie hinzufügt, eine Straßenhündin, um die sie sich kümmert, ihre Mutter im Süden Chiles, ein Tankwart, die sozialen Unruhen im Chile der späten 2010er-Jahre, ein Raubüberfall. Alles sei wichtig, so Estela. Nun ja, offen gesagt ist nicht jede dieser Randgeschichten so essentiell und manche haben mit dem direkten Aus- oder Hergang der Geschichte nicht so viel zu tun, wie Estela uns Glauben machen will. An dieser Stelle ist Estelas Erzählung manchmal zu ausschweifend und redundant.
Redundant sind überdies manch andere Passagen in diesem Buch. Sie wiederholt oft wieder und wieder dieselben Sachverhalte, was der Geschichte als Stilmittel wohl zusätzlich Eindruck bei den sie Verhörenden bzw. den ihr Zuhörenden erwecken soll. Das funktioniert hin und wieder ganz gut, ist allerdings ein Stilmittel, das sich über so viele Seiten erschöpft und bereits früh nervt, ähnlich wie die zahlreichen pointierten Sätze und Zitate, die sich viel zu bedeutungsschwanger geben, als sie es eigentlich sind.
Ein Leben zwischen Herd, Bügelbrett und Garten
Das Leben zwischen Herd, Bügelbrett und Garten hingegen beschreibt sie sehr anfassbar. Der Señor und die Señora, wie sie ihre Hausherrin und den Hausherren nur nennt, ebenso wie „das Mädchen“ – Júlia heißt es, wird von Estela aber nur als „das Mädchen“ bezeichnet, was zusätzliche Distanz schafft (zumal es dadurch mit sächlichen Pronomen bezeichnet und stets zum Objekt degradiert wird) – sind das, was nicht nur Friedrich Merz als „gehobene Mittelschicht“ bezeichnen würde, vielleicht sogar noch weiter oben in der Nahrungskette angesiedelt.
Das Ehepaar behandelt Estela nicht immer respektvoll, aber sie scheinen nach und nach doch zu merken, wie sehr sie sich auf ihre Angestellte verlassen können. Freiraum geben sie ihr dennoch kaum. Das Mädchen hingegen ist – mit Verlaub – ein Arschlochkind. Eine verwöhnte Göre und der Anteil, den die Eltern an der Erziehung einnehmen, dient eher dazu, das Mädchen noch verzogener zu machen. Helikoptereltern eben… Im Umgang mit ihr als Untergebener schildert Estela sehr berührend, wie ihr Schicksal, das stellvertretend für das so vieler Hausangestellter in Chile, Südamerika und der ganzen Welt steht, im Hause ihrer Dienstherren verläuft.
Mein Name ist Estela von Alia Trabucco Zerán ist somit ein Buch, das auf der inhaltlichen Ebene an vielen Stellen überzeugen kann, aber bei den Stilmitteln und manch einer Abschweifung durchaus hätte Zeit und Raum einsparen können. Und das sei zum Schluss gesagt: Der Schluss birgt am Ende die eine oder sogar zwei Wendungen zu viel – hier hätte es weit bessere Möglichkeiten gegeben, bereits früher einen Schlusspunkt zu setzen. Das jedoch kennen wir auch von so manch einem Tatort. Schade.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.


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