Algorithmen und Künstliche Intelligenz können viel, aber lange nicht alles. Der Autor Daniel Kehlmann versuchte ein Buch mit einer Künstlichen Intelligenz zu schreiben und scheiterte grandios. Was aber – lassen wir dieses Gedankenexperiment einmal zu – wenn ein Algorithmus tatsächlich Kreativität entwickeln und zu einem Eigenleben erwachen würde?
Ein Kerl macht sich frei
Darum dreht sich der Film Free Guy, der 2021 in die Kinos kam und aktuell unter den zehn erfolgreichsten Filmen des Jahres 2021 rangiert. Hauptcharakter dieser Dystopie ist Guy (Ryan Reynolds), eigentlich ein namenloser Nebencharakter in dem fiktiven, weltweit überaus populären Onlinespiel „Free City“. Guy (zu deutsch: Kerl) ist im Spiel eine unwichtige Figur, hübsches Beiwerk, Angestellter einer Bank, die täglich in der von Verbrechen gebeutelten Stadt zu neuem Leben erwacht und die jeden Tag dieselben Routinen durchmachen muss – selbst der Kaffee ist immer identisch. So wie er eben programmiert wurde.
Denn um die überwiegend männlichen Programmierer und Eigentümer des Videospiels im realen Leben geht es auf der zweiten Handlungsebene. Free City basiert wohl auf einem Algorithmus, der von Keys (Joe Keery) und seiner vormaligen Partnerin Millie (Jodie Comer, Killing Eve, Bikeriders) erdacht und später an den Investor Antwan (Taika Waititi) verkauft wurde. Während Keys noch in Antwans Firma beschäftigt ist, hat Millie ihm den Rücken gekehrt und eine Klage angestrengt, denn Antwan soll Teile des Algorithmus unrechtmäßig in das Spiel eingebaut haben, bestreitet dies jedoch.
Millie macht sich als „Molotovgirl“ in Free City auf die Suche nach den unrechtmäßig verwendeten Codes, was zu einem Wettlauf gegen die Zeit avanciert, denn ein Upgrade des Spiels steht bevor und die Beweise drohen von Antwan vernichtet zu werden. Gemeinsam mit Guy, den Millie kennenlernt und der eine unerwartete Eigendynamik – eben eine Künstliche Intelligenz – entwickelt hat, kämpft sie darum, das Update und damit auch das Ende von Guy und dem ihm zugrundeliegenden Algorithmus zu verhindern.
Komplexe Story und Figuren, zum Leben erweckt
Das klingt erst einmal sehr komplex, technisch, verwoben und vor allem nerdig. Und das ist es in der Tat, aber das Team um Regisseur Shawn Levy (aktuell: Deadpool & Wolverine) sowie die Drehbuchautoren Matt Lieberman und Zack Penn baut die Story sehr gut und nachvollziehbar auf. Guy, sein Alltag in Free City und auch der Urheberrechtskonflikt in der realen Welt werden sehr gut nacheinander vorgestellt und Schritt für Schritt miteinander verwoben, selbst wenn dabei manch ein kleiner Handlungsstrang immer mal wieder fallen gelassen und nicht weiterverfolgt wird, sondern als loses Ende offenbleibt.
Etwa zu Beginn der zweiten Hälfte führt das – ähnlich wie beim Münchener Tatort: Dreams – zwar zu einer etwa 20-minütigen Phase, in der die Spannung ein wenig abfällt. Im Wesentlichen wird die Geschichte aber gut und auch für weniger Computerspielbegeisterte nachvollziehbar erzählt. Die Figuren werden quasi gut zum Leben erweckt, manches kleine Gimmick oder nicht ganz so subtile Anspielungen unterstreichen den Unterhaltungswert für Nerds und Nichtnerds. Und mensch fühlt sich fast unwillkürlich in eine Mischung aus den Klassikern Die Truman-Show und Und täglich grüßt das Murmeltier versetzt.
Nicht nur Facebook kann Meta
Fast wichtiger als die Unterhaltung sind aber die Botschaften auf der Metaebene. Zum einen geht es darum, dass hier von Millie und Keys tatsächlich eine funktionierende und sich selbst erhaltende und verstärkende Künstliche Intelligenz erschaffen wurde. Das allein wäre schon eine Sensation, derer sich Antwan nicht, aber Keys und vor allem Millie bewusst sind – wenn da nicht der Nobelpreis winkt.
Diese Super-KI manifestiert sich in Guy zwar in einem sprichwörtlichen „Good Guy“, aber das ist natürlich nicht gottgegeben. In einem bereits älteren Tatort des Stuttgarter Ermittlerteams beispielsweise gab es eine KI, die wie der Mensch die Selbsterhaltung über alles stellte und daraufhin sogar einen Mord beging. Das war ein Beispiel für einen tatsächlichen „Aufstand der Maschinen“, in dem die KI die Macht übernimmt. Guy hingegen ist das Beispiel einer „guten KI“ – das Potential für Unheil ist jedoch auch in ihm bereits angelegt.
Zweitens: die Art und Weise, wie Guy zu seiner Intelligenz gelangt, nämlich durch Emotion. Emotionen, so heißt es oft, sind ein Aspekt, die uns auch in Zukunft noch von Künstlicher Intelligenz unterscheiden werden. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Guy und sein Eigenleben nur dadurch entstehen konnten, dass ihm ein emotionaler Impuls induziert wurde. Und das wiederum bestätigt die Überlegenheit der Emotion gegenüber jeglicher Art von Intelligenz eigentlich nur – und wird auch in der im Film realen Welt um Keys, Millie und Antwan für eine schöne Schlusspointe sorgen.
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Free Guy ist also eine wunderbar aufbereitete Dystopie, ein trotz zwei Stunden Laufzeit fast durchgängig spannender und überaus unterhaltsamer Film nicht nur – aber nicht zuletzt – für Technikbegeisterte. Die Konsequenz einer wirklichen, sich selbst erhaltenden KI wird hier sehr positiv dargestellt, die negativen Potentiale ausgeblendet. Das ist ein schönes Gedankenexperiment, vielleicht ein bisschen einseitig, aber per se illustriert es sehr schön eine ethische Frage, die uns in der Zukunft vermutlich noch intensiv beschäftigen wird.
Zugegeben, es wird Menschen geben, die mit Schwierigkeiten haben dürften, einen Film über ein Computerspiel, das doch nur eine Binnenhandlung darstellt, wirklich für voll zu nehmen. Aber unter der Decke dieses nerdig anmutenden Themas verbirgt sich eine zumeist mitreißende Story, die sich auf ein etwas spezielles Terrain wagt.
HMS
Das ZDF zeigt Free Guy am Montag, 07. Oktober 2024, um 23:15 Uhr.
Free Guy; USA 2021; Regie: Shawn Levy; Drehbuch: Matt Lieberman, Zack Penn; Bildgestaltung: George Richmond; Musik: Christophe Beck; Darsteller*innen: Ryan Reynolds, Jodie Comer, Lil Rel Howery, Taika Waititi, Utkarsh Ambudkar, Joe Keery, u. v. a.; Laufzeit ca. 115 Minuten; FSK: 12
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