Tod und Nicht-Vergessen

Wie Menschen mit dem Verlust einer geliebten Person umgehen, ist immer unterschiedlich, wir sind individuelle Wesen. Die theoretischen Vier- oder Fünf- oder gar Sieben-Trauerphasen-Modelle hin oder her, sie ähneln sich ohnehin – wie Verlust empfunden, gelebt und bestenfalls bewältigt wird ist eben doch sehr unterschiedlich. Einer etwas anderen Form der Trauerbewältigung geht der französisch-italienische Spielfilm 7 Minuten von Regisseur Ricky Mastro nach: Der 55-jährige Polizist Jean muss den Tod seines Sohnes Maxime verkraften und schleicht sich dafür in dessen Welt ein.

Ein anderes Leben

7 Minuten beginnt mit frischem Tageslicht in einem Hotelzimmer, wo Maxime (Valentine Malguy) und sein Freund Kevin (Paul Arvenne) sich lustvoll und mit GHB die Zeit zwischen weißen Bettlaken und -decken vertreiben. Wenig später sind beide tot. Der Polizist Jean (Antoine Herbez) lässt sich, obwohl er natürlich für einige Zeit außer Dienst ist, über den Autopsiebericht informieren: Beide hätten Drogen im Blut gehabt, sein Sohn Maxime sei sieben Minuten nach Kevin gestorben.

Für den Vater – wie Zuschauer*innen – stehen die Fragen im Raum: Was ist in diesen sieben Minuten passiert? Warum hat Maxime keine Hilfe gerufen? Wie kam es überhaupt dazu, dass sein Sohn Drogen nahm? Um diese Fragen zu beantworten, begibt Jean sich schließlich ins Bisou, den Stammclub seines Sohnes. Unter falscher Identität, als Autor, der ein Buch über Clubber und deren Welt schreiben wolle, lernt er einen Freund der beiden Toten kennen: Fabien (Clément Naline). 

Dieser entwickelt schnell eine Faszination für Jean, der diese erwidern zu scheint, je mehr Zeit die zwei miteinander verbringen. Immer tiefer taucht Jean in die Welt von Maxime, Kevin und Fabien ein – verliert er dabei sein Ziel aus den Augen?

Drogen und Job – Tatort und Foucault

Um diese Frage zu beantworten, müssten wir als Zuschauer*innen vor allem wissen, was das konkrete Ziel Jeans ist. Es ist nicht ganz klar, ob es seine oberste Priorität ist, den Tod seines Sohnes und die fehlenden sieben Minuten restlos auf- und sich zu erklären. Oder möchte er seinem Sohn noch einmal nahe sein? Ihr Verhältnis schien gut, kurz vor Maximes Tod telefonieren Vater und Sohn nochmals vertraut miteinander und im Gegensatz zu Kevins Eltern hatte Jean wohl auch keinerlei Probleme mit dem Schwulsein seines Sohnes. 

Oder versucht er einen Schuldigen in der Clubwelt des Sohnes zu finden, sinnt er gar auf Rache? Diese Möglichkeit fällt schnell unter den Tisch, da wir zwar sehen wie Jean ein wenig orientierungslos, aber nicht bitter in die Welt seines Sohnes eintaucht. Gewieft, aber nicht hintertrieben. 

Fabien und seine „Bisouaner“ // © Pro-Fun Media

Diese Welt der „Bisouaner“ allerdings hat es in sich, besteht primär aus Party und Drogen, was manchen ein wenig einseitig vorkommen mag. Hierzu sei gesagt: Wir erleben die Abende und Wochenendnächte der Figuren, nicht den Alltag der Feiernden. Jean ist zuerst ungläubig, dass sein Sohn Drogen genommen haben soll, er hatte doch einen guten Job und ein sicheres Leben. Es geht eben beides. Quasi Tatort und Foucault. 

Wer kennt schon wen?

So zieht 7 Minuten seine nicht zu leugnende Faszination eben auf der einen Seite daraus, dass wir Jean, der von Antoine Herbez rätselhaft und bedacht, nie aber blass oder blank gespielt wird, begleiten, die Welt des schwulen Sohnes zu entdecken und dabei vielleicht auch die hintergründigen Motive des still trauernden Vaters. Die Wahrheitssuche gerät zunehmend in den Hintergrund, was auch daran liegen mag, dass der Tod des Sohnes eindeutig auf Drogen und einen Gürtel zurückzuführen ist. Und die Frage nach den sieben fehlenden Minuten wird auch im Bisou nicht beantwortet werden können.

Auf der anderen Seite ist es die Annäherung zwischen Jean und Fabien, die zuerst als Spiel Jeans gelesen werden kann, möglicherweise zu Unrecht, sich später aber insoweit auf Augenhöhe mit der Fabiens befindet, als dass Jean sich dieser nicht widersetzt, sondern ihr zuwendet. Dies geschieht in vielerlei Hinsicht in dessen Innerem und es ist an uns Zuschauer*innen, Momente und Regungen zu interpretieren. 

Fragen, Interesse und Anziehung: Jean und Fabien // © Pro-Fun Media

So ist es auch bei Fabien: Woher sein Interesse an Jean kommt, ist unklar, wird höchstens angedeutet. Liegt es daran, dass er dessen mögliches Bedürfnis nach körperlicher Nähe und dem vermuteten Wunsch unterdrückte Homosexualität auszuleben spürt? Möchte er den „sauberen“ Zuschauer Jean lediglich „drehen“, wie er es in einem der ersten, sehr fesselnden und immer ein wenig über dem eigentlich Stattfindenden schwebenden Gespräche (Drehbuch ebenfalls von Ricky Mastro), nennt? Sieht er die Möglichkeit nach einem anderen Leben und sucht er die überhaupt? 

Keine Auflösung, aber ein Symbol

Keine dieser Fragen wird eindeutig beantwortet. 7 Minuten lebt von seinen Auslassungen, wenn auch anders als beispielsweise das argentinische Beinahe-Meisterwerk End of the Century. Das wiederum dürfte so manchen Zuschauer*innen nicht gefallen, einigen dürfte es an definierter Motivation und Handlungshintergründen mangeln. Andere wiederum, zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehört, dürften das durchaus auch mal begrüßenswert finden. Vor allem wenn es, wie hier, so konsequent geschieht und zu Momenten des Films passt, in denen es auch immer wieder darum geht, was man eigentlich wirklich über seine Freunde wisse. Der Film mäandert also nicht zwischen Erklärung einzelner Motive und dann wieder völliger Leere anderer Handlungen. 

So gibt es eine Szene, die in der Vorstellung Fabiens stattfindet und in der er unter anderem endlich mit Maxime und Kevin im im Film immer wieder angesprochenen Berlin ist und gemeinsam mit ihnen im KitKat tanzt. Diese Szene geschieht und wir wissen zeitweilig nicht, welche weiteren Teile Fantasie oder doch Erinnerung sind. Diese Unsicherheit und Freiheit zur Interpretation müssen Zuschauer*innen in einem Film wollen, um 7 Minuten mögen zu können.

Maxime und Kevin in den letzten Momenten gemeinsamer Nähe // © Pro-Fun Media

Einzig ärgerlich ist, dass trotz eines kurzen Blickes zurück am Schluss, die besagten sieben Minuten dennoch völlig im Dunklen bleiben. Es wäre schon schön gewesen, einen Blick auf den Moment der letzten Entscheidung Maximes zu erhaschen. Auch um einen Schlussstrich für uns zu ziehen, andererseits passt auch dieses Ausbleiben zum Rest des Films. Zumal: Jean setzt seinen persönlichen Schlusspunkt in einer kleinen, aber symbolisch kräftigen Handlung, auch ohne seine Antwort gefunden zu haben.

7 Minuten ist ein atmosphärischer, im besten Sinne getriebener und mutiger Film voller Fragen, mit wenigen Antworten, dafür reichlich Möglichkeiten zur Interpretation nur zwischen den Zeilen und Gesten sowie in den Gesichtern der Protagonist*innen. 

Den Trailer findet ihr hier.

7 Minuten; Frankreich, Italien, 2020; Regie & Drehbuch: Ricky Mastro; Musik: Alejandro Bonatto, Alan Marzin; Kamera: Luca Russo, Darsteller: Antoine Herbez, Clément Naline, Valentin Malguy, Paul Arvenne, Cedrick Spinassou, Robin Laroque, Valérie Prudent, Yohan Levy, Sylvain Jouret; Laufzeit: ca. 78 Minuten; FSK: 16; Pro-Fun Media; erhältlich auf DVD, als VoD und Download; französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

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