Kürzlich schrieben wir, dass Luca Guadagninos Verfilmung des queeren Kultbuches von Williams S. Burroughs augenblicklich ein Klassiker werden könnte bzw. dürfte. Ganz ähnlich sehe ich es beim Langfilm-Debüt des Belgiers Anthony Schatteman: Young Hearts. Die Coming-Of-Age-&-Coming-Out-Geschichte um das erste Verliebtsein zweier Vierzehnjähriger ist ein zauberhaft leichter, jedoch kein simpler oder unterkomplexer Film. Wenn der 1989 geborene Autor und Regisseur sagt, er habe einen Film gemacht, wie er ihn sich in genau diesem Alter gewünscht hätte, glaubt mensch ihm das gern. Und zumindest mir geht es ganz genauso.
Allgemeine neue Verunsicherung
„Die Leidenschaft dafür, diese Geschichte zu erzählen, kommt aus einer sehr persönlichen Perspektive. Sie basiert auf meinem eigenen Leben und sollte auch für viele Personen heute Relevanz haben. Meine Kindheit habe ich als sehr schwierig erlebt, weil ich mir meiner Sexualität unsicher war. Auf viele meiner Fragen habe ich damals keine Antwort bekommen, weder zuhause noch in der Schule, und verfiel deswegen in einen inneren Konflikt. Ich begann mich von meinem Umfeld abzuschirmen. Das bedeutete viele Lügen und Geheimnisse, weil ich Angst davor hatte, sie würden sich dafür schämen, wer ich war. ‚Young Hearts‘ handelt von einem Jungen – genau wie ich einer war – der nicht weiß, wie er mit seiner aufkeimenden Sexualität umgehen soll.“
Anthony Schatteman
In Young Hearts heißt dieser 14-jährige Junge Elias (Entdeckung Nummer eins: Lou Goossens) und ist neben der Schule so mit dem üblichen Kram jüngerer Teenanger befasst, die recht behütet in einem ländlichen Dorf à la Jede*r-Kennt-Jede*n aufwachsen (gedreht wurde tatsächlich in dem Dorf, in dem Schatteman aufwuchs – wir kommen darauf zurück). Der Familie geht es alles in allem gut. Die Schlagersänger-Karriere von Vater Luk (Geert Van Rampelberg) nimmt mehr und mehr an Fahrt auf, die Mutter Nathalie (Emilie De Roo) ist so liebevoll wie modern und bei Opa Fred (Dirk Van Dijck) kann Elias solide Landluft schnuppern.

Als der gleichaltrige, sehr selbstbewusste Alexander (Entdeckung Nummer zwei: Marius De Saeger) ins Haus gegenüber zieht, schließen die zwei Jungs schnell Bekanntschaft, schließlich Freundschaft. Dabei entdeckt Elias, der so On-Off mit Valerie (Saar Rogiers) zusammen ist, neue und aufregende, allerdings auch verunsichernde Gefühle. Elias möchte mehr und mehr Zeit mit Alexander verbringen und stellt fest, dass er verschossen scheint. Als Elias Alexander fragt, ob er schon einmal verliebt gewesen sei und dieser ihm im Zuge seiner Antwort sagt, dass er auf Jungs steht, freut Elias das so sehr wie es ihn gleichsam verunsichert…
Außenseiter unter Offenen
Wie soll er damit umgehen? Mit seinen Gefühlen, womöglich für jenen Alexander?! Der Umgebung, die zwar open-minded scheint, aber eben doch heteronormativ geprägt ist!? Und sowieso sind die meisten Teenie-Gören zunächst gern einmal Arschlöcher (m/w), wenn es um Neues geht. Irgendein Opfa braucht’s doch immer, oder?! Da ist ein nonkonformistischer Neuzugang mit langem Haar doch ein wunderbarer Mobbing-Happen.

So beschließt Elias seine Gefühle und Ansichten für sich zu behalten, was ihm zunehmend schwer fällt und ihn nach und nach von der Familie (Papa Luk ist ohnehin sehr fokussiert auf die Karriere), (vermeintlichen) Freund*innen und Alexander entfremdet. So steht für ihn irgendwann die Frage in Kopf und Raum: Was möchte ich und was bin ich bereit dafür zu tun?
Lebensechtes Drama
Um es gleich vorwegzunehmen: Zwar habe ich hier von Arschlöchern und Mobbing geschrieben, doch hat Anthony Schattenmann mit Young Hearts keinen Film gemacht, der vom Hellen ins Dunkel geht. Dennoch lässt er in den neunzig Filmminuten manch ein Problem, das mit Homosexualität, Queerness, Individualismus, etc. durch eine bornierte oder unerfahrene, verusicherte Umgebung auftreten kann, eben nicht außen vor. Das ist gut so, wäre alles andere doch unehrlich gegenüber dem Thema und Wirklichkeit gewesen.

Dennoch werden auch diese Momente nicht überdramatisiert, wie auch das kleine Liebesdrama zwischen Elias und Alexander nie den Moment einer Soap-Nummer erreicht. Die Problemstellungen in Young Hearts, die kleineren wie größeren Hürden bleiben nachvollziehbar, wirken teils wie aus dem Leben gegriffen. Dieses greifbar Authentische ist natürlich zu einem Großteil dem Ensemble und vor allem Lou Goossens und Marius De Saeger zu verdanken.
Nostalgie und Authentizität
Gecastet aus 1.500 Jungen, beziehungsweise wurde De Saeger zufällig beim Fußballspielen entdeckt, stimmt die Chemie zwischen den beiden bis ins letzte Detail. Offenheit hilft natürlich: „Sowohl Lou und Marius sagten, dass sie nicht darüber nachdenken würden, ob sie nun Jungen oder Mädchen mögen. Sie wollten Teil des Films sein, weil er davon handelte, sich zu verlieben“, so Schatteman. Der Castingprozess lief dazu mit der Unterstützung von Oliver Roels, einem Freund von Anthony Schatteman, der auch Kindertherapeut und -psychologe ist (und auch beim Dreh eher schwieriger Szenen zugegen war) sowie einem weiteren engen Freund, dem Regisseur Lukas Dhont, der nach dem ungleich düstereren Close Erfahrung mit Jungschauspieler*innen hat.
„Ich wollte dem Film etwas Authentisches und etwas Nostalgisches geben. Das Gefühl, jung und sorglos zu sein. ‚Young Hearts‘ ist zeitlich in der Gegenwart verortet, nimmt man aber die Smartphones raus, könnte es genauso gut Anfang des Jahrtausends spielen.“
Anthony Schatteman

Zur märchenhaften Authentizität dürfte zusätzlich der Dreh am früheren Heimatort des Regisseurs beigetragen haben. In den zwei Monaten der Dreharbeiten kam er in seinem Elternhaus unter und schlief in dem Zimmer, in dem er bereits als Kind geschlafen habe. Was, wie er lachend im Gespräch mit dem deutschen Verleih Salzgeber sagt, wiederum sehr therapeutisch gewesen sei. Ob Straße, Schule oder Fluss: Schatteman lebte, lernte und schwamm dort.
Alles im Fluss
Die fließenden Kameraperspektiven von Pieter Van Campe, der auf die Figur und deren Umgebung fokussierte Schnitt von Emiel Nuninga und die einen auffangende und teils sanft wiegende Musik Ruben De Gheselles lassen Young Hearts näher und näher ans eigene Herz rücken. Ein paar Tränchen sind kaum zu vermeiden. Glücklicherweise ganz ohne große Manipulation durch Regie oder einen Grey’s Anatomy-artigen Musikeinsatz.
In der Tat ein Film, den sich wohl viele in ihrer Jugend gewünscht haben (und der damit ähnliche Wünsche erfüllt wie Heartstopper). Immerhin einer, der nun da ist: Für die Jugend, für junge Erwachsene und eigentlich jede Generation. Zudem malt Schattemans langer Erstling uns in diesen dunklen Tagen ein sonniges Lächeln ins Gesicht. Fein, dass Young Hearts nun, knapp ein Jahr nachdem er auf der 74. Berlinale seine Premiere feierte und für den Teddy Award nominiert war, regulär im Kino zu sehen ist. Hingehen und mitfühlen.
AS
PS: Wer es ähnlich sonnig und dabei doch eher düster wünscht, darf sich ab dem 30. Januar 2025 auf die etwas anders erzählte schwule Geschichte in Gotteskinder mit Serafin Mishiev und Mark Waschke… nun… „freuen“.

Young Hearts startet am Donnerstag, 16. Januar 2025, im Kino. Termine und Spielorte findet ihr bspw. hier.
Young Hearts; Belgien, Niederlande 2024; Drehbuch und Regie: Anthony Schatteman; Bildgestaltung: Pieter Van Campe; Musik: Ruben De Gheselle; Darsteller*innen: Lou Goossens, Marius De Saeger, Geert Van Rampelberg, Emilie de Roo, Dirk Van Dijck, Saar Rogiers, Jul Goossens, Wim Opbrouck, Florence Hebbelynck, Olivier Englebert, LaDiva Live; Laufzeit ca. 97 Minuten; FSK: 0; niederländisch-französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln & deutsche Synchronfassung; Eine Produktion von Polar Bear in Zusammenarbeit mit Ketnet, Voo, BETV; unterstützt durch The Flanders Audiovisual Fund (VAF) of the Government of Flanders, Screen Flanders, Tax Shelter of the Belgian Federal Government via Mohow!, Netherlands Film Production Incentive und Sabam for Culture, Benelux; im Verleih von Salzgeber
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