Die Preisfrage direkt zu Beginn: Welche Teile der Zeitenwende gehen nach dem Ende der Ampelkoalition nun langsamer voran? Antwort: vermutlich keiner. Zweieinhalb Jahre vor Ende seiner Koalition verkündete Olaf Scholz am 27. Februar 2022 einen dogmatischen Wechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik inklusive Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Ausstattung der maroden Bundeswehr. Passiert ist seither: relativ wenig.
Bis zum Fall der Berliner Mauer, der sich in diesen Tagen zum 35. Mal jährt, war die westdeutsche Bundeswehr einigermaßen gut ausgestattet, aber nach dem Ende der nuklearen Bedrohung aus der Sowjetunion war die Bedrohung erst einmal dahin. 1999 ging es dann in die ersten Auslandseinsätze und die Rolle der Bundeswehr änderte sich fundamental. Und sie wurde Stück für Stück zur Cash Cow der Finanzminister, denn Landes- und Bündnisverteidigung brauchten wir nicht mehr. Ergo war es egal, dass die Kasernen mit den Schulklos im Wettbewerb „Unser Dorf muss hässlicher werden“ konkurrierten und die Panzer weder fuhren noch schossen.
Fortschritt im Sand
Zeitenwende also – gedanklich wie finanziell. Zum nun unverhofft, wenn auch nicht unerwartet, frühen Ende der einstigen Fortschrittskoalition lässt sich festhalten: Da ist noch nicht allzu viel passiert. Dieser Auffassung ist auch der Journalist Christian Schweppe, der sich seit Längerem mit der Sicherheitspolitik Deutschlands auseinandersetzt und in Zeiten ohne Wende – Anatomie eines Scheiterns bei C.H. Beck einen Report darüber abliefert, wie Scholz und seine Regierung die Zeitenwende in den märkischen Sand gesetzt haben.
In drei Kapiteln – Schweppe nennt sie Phasen – und jeweils drei Unterkapiteln erläutert der junge Journalist, wie es im Februar 2022 zur Zeitenwende kam, wie vor allem das Investitionsprogramm verschleppt und schlecht verwaltet wurde und stellt die Frage, ob nach einem Jahr Missmanagement bereits alles verloren gewesen sei. Spoiler: Nein.
Zielsicherer als das G 36
Schweppe zeichnet mit großer Detailversessenheit die Entwicklung oder vielmehr den weitgehenden Stillstand der deutschen Verteidigungspolitik nach Putins Überfall auf die Ukraine nach. Er erläutert überaus nachvollziehbar, wie Olaf Scholz darauf kam, die Zeitenwende auszurufen, wie sich seine Verteidigungsministerin von einem Fettnäpfchen deutlich zielsicherer als ein G 36-Sturmgewehr ins nächste manövrierte und wie ihr Nachfolger Boris Pistorius zwar Glaubwürdigkeit in die angeknackste Bundeswehr brachte, aber dennoch mit manchen Hindernissen zu kämpfen hat.
Vor zehn Jahren war es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das vollkommen überfordert war, heute scheint es das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz zu sein (und die Bundeswahlleiterin, die kein Papier für Wahlzettel findet, aber seis drum). Politisch werden mit der Zeitenwende große Reden geschwungen, aber in der Umsetzung hapert es weiterhin, wie wir bei Schweppe sehr gut nachvollziehen können.
(Anti-)Fanboy
Er spricht mit den Akteuren aus der Bundeswehr, der Wirtschaft und der Politik und sie alle geben zu Protokoll, dass die Zeitenwende verstolpert wurde. Schweppe arbeitet dies sehr nachvollziehbar heraus, scheint ein großer Fan der mittlerweile ins Europäische Parlament gewechselten Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) zu sein und die SPD so gar nicht leiden zu können. Zumindest geht er mit deren Akteuren sehr kritisch ins Gericht, was aber angesichts der Verantwortlichkeiten vollkommen gerechtfertigt ist.
Nur eines verwundert an der Stelle ein wenig: Dass es teils nicht noch härter ist. Die SPD – und zwar die Partei als Ganzes (ganz besonders ihr heutiger Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich) – ist zentral dafür verantwortlich, dass Deutschland und seine Verteidigungspolitik dort stehen, wo sie auch 2022 bereits standen. Ja, Angela Merkel war sechzehn Jahre Bundeskanzlerin, aber es war ein sozialdemokratischer Außenminister, der das Zwei-Prozent-Ziel 2014 erstmals unterschrieb.
Es war die SPD, die Ende der 2010er-Jahre verhinderte, dass mehr Geld in die Verteidigung fließt, obwohl die CDU/CSU es bereits damals nachdrücklich forderte. Es war ebenjener Mützenich, der eine Debatte über Drohnen 2020, die ein eindeutiges und abschließendes Ergebnis gebracht hatte, verfemte. Die SPD, ihr falsch verstandener Pazifismus und ihr unerträgliches Putin-Verstehen haben die Lage in der Bundeswehr erst so prekär werden lassen. Und wenn noch dazu eine „Helikoptermutter“ (Zitat Schweppe) wie Christine Lambrecht die Zeitenwende auch in den Köpfen herbeiführen sollen, dann ist das von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
„Eine Lage“, die weit über Berlin hinausgeht
Es ist dieses Scheitern, das Schweppe eindrücklich nachzeichnet und dafür an die richtigen Orte im politischen Berlin und darüber hinaus geht. Bundestag, Haushaltsausschuss, Kanzleramt, Abgeordnetenbüros, Abendempfänge der Wehrbeauftragten, Kasernen. Diese und noch viele weitere Orte und die dort vertretenen Menschen besucht er, macht sich sein Bild und arbeitet sehr gut nachvollziehbar auf, an welchen Orten diese Zeitenwende sich abspielen sollte, dies aber eher nicht tut.
Es ist eine Chronik der Termine, die Christian Schweppe in seinem doch einigermaßen privilegierten Leben als Hauptstadtjournalist wahrgenommen hat und dafür hinter Türen blickt und Hintergründe aufzeigt, die vielen sonst verschlossen bleiben. Die Zeitenwende ist das zentrale Projekt, das Olaf Scholz und seine Bundesregierung nicht vorhersahen, das die Ampel vor scheinbar unlösbare Herausforderungen stellte und ihre Koalitionsvereinbarung nach gerade einmal drei Monaten zu großen Teilen auf den Kopf stellte.
Zeiten ohne Wende ist ein Titel, der kaum passender für „eine Lage“ (Zitat Christian Lindner), die weit über Berlin hinausgeht, sein könnte und Christian Schweppes hintergründige Analyse ist die traurige, aber absolut lesenswerte Bilanz für alle, die sich um die Sicherheit Deutschlands und Europas sorgen. Und vor allem um den Anteil, den Deutschland hierzu beitragen kann.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende – Anatomie eines Scheiterns; Oktober 2024; 351 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-406-82177-6; C.H. Beck Verlag; 26,00 €
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