Verzeihung bitte, ich muss ins Kanzleramt

Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU. Wer kann mir welche nennen? Vermutlich schnellen im virtuellen Raum gerade nicht allzu viele Hände nach oben. Wenn aber der Name Jens Spahn fällt, bis vor etwa einem Jahr Gesundheitsminister und oberster Pandemiemanager der Republik, dürften wieder etwas mehr Personen im Bilde sein.

Stellvertretender Fraktionsvorsitzender ist Spahn heute, zuständig unter anderem für Wirtschaft, Klima und Energie, widmet er sich nun also anderen Themen als in den Vorjahren. Und doch wird das Corona-Krisenmanagement vermutlich auf lange Zeit mit seinem Namen und seinem Gesicht verbunden bleiben. Dazu trägt auch sein aktuelles Buch bei, in dem er seine Sicht auf die Pandemie und das – sein – Krisenmanagement Revue passieren lässt.

Der Pandemieminister

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise lautet der volle und etwas sperrige Titel dieses Buchs, das unter Mithilfe der beiden Journalisten Olaf Köhne und Peter Käfferlein im September im Heyne Verlag erschienen ist. Auf rund 300 Seiten und in zehn Kapiteln von je ca. 20 bis 30 Seiten schildert der vormalige Gesundheitsminister seine Perspektive auf die Pandemie, die Entscheidungsfindung und auch auf sich selbst.

Viele Aspekte, die in der Öffentlichkeit schon fast wieder vergessen sein dürften, zu ihrer jeweiligen Zeit aber ganz Deutschland und teils Europa und die Welt bewegt haben, wirft Spahn hier wieder auf. Die schleichende Gefahr ab Anfang 2020, Karnevalssitzungen im Kreis Heinsberg, Maskenmangel, Impfstoffentwicklung und -verteilung, Testchaos, Osterruhe und Lockdown sind nur einige von vielen Begriffen, die hier schnell ins Auge fallen.

Der Krisenmanager

Und auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Vieles in dieser Pandemie ist gut gelaufen – was Spahn selbstverständlich hervorhebt, ist ja auch sein gutes Recht. Ob es die Disziplin ist, die wir alle zu Beginn der Pandemie an den Tag legten, das Nichtentstehen von Bildern wie in Bergamo, die schnelle Entwicklung eines Impfstoffs oder die alles in allem doch recht zügige Impfkampagne ab Ende 2020: Wie bereits Angela Merkel einmal als Einschätzung abgab, im Wesentlichen sind wir (bis hierhin) halbwegs gut durch die Pandemie gekommen. Auf entsprechende Punkte weist Spahn selbstverständlich hin.

Natürlich gibt es aber auch Dinge, die nicht so glattliefen – einige wurden bereits erwähnt. Auch diese spart Spahn in seinem Buch nicht aus. Ob es eine koordinierte europäische Beschaffung des Impfstoffes war, zu wenig auf EU-Ebene bereitgestellte Mittel für alle potenziellen Impfstofflieferanten, das kommunikative Debakel um die Osterruhe oder die um (lediglich) eine Woche verschobene Testkampagne, hier geht Spahn mit der Arbeit der Bundesregierung, ihrer Partnerinnen und Partner und auch mit sich selbst ins Gericht.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU/CSU, bei seiner Regierungserklärung zum Stand der Pandemie und den Beginn der Impfungen am Mittwoch, 13. Januar 2021 // Foto: © Deutscher Bundestag/Simone M. Neumann

Das ist löblich, könnte er doch auch vielfach einfach darüber schweigen und Dinge auf sich beruhen lassen. Aber nein, er schafft für diese und viele weitere Punkte einen Kontext, schildert den Hergang von so mancher Entwicklung und Entscheidung und benennt auch reumütig, welche Fehler er persönlich in manchen Situationen begangen hat. Das verdient Respekt und Anerkennung, zumal er nicht selten Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge direkt mitliefert.

Der Allrounder

Oftmals dient ein bestimmtes Ereignis aus der Pandemie darüber hinaus eher als Ausgangspunkt für eine eigentlich ganz andere Thematik. Das verhältnismäßig kurze Kapitel „Souverän werden ist das Gebot“ beispielsweise startet mit geostrategischen Erwägungen, hangelt sich über die vor allem zu Beginn der Pandemie fragliche Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln (Lieferketten in Asien) und mündet in einen (sachlich gebotenen) Appell, dass Deutschland und Europa in kritischen Industrien (wieder) souverän und autark werden müssen.

An diesem Beispiel zeigt sich sehr schön, wie der Allrounder Spahn tickt, nicht nur in Hinblick auf die Pandemie. Er nimmt eine Erfahrung aus der Vergangenheit, lässt auch andere Aspekte und Perspektiven einfließen (Stichwort: Stellvertretender Fraktionsvorsitzender für Wirtschaft etc.) und formuliert daraus eine Forderung oder Vision für die Zukunft. Das ist extrem kluges und vorausschauendes politisches Denken, zumal viele der Punkte mit der Pandemie und ihrer Bekämpfung eben nicht mehr unmittelbar zu tun haben, aber die Lehren und Übergänge doch fließend sind.

Der Debattierfreudige

Jens Spahn ist als Politiker bekannt, der die Debatte nicht scheut – auch das schildert er selbstverständlich in Wir werden einander viel verzeihen müssen immer wieder, vornehmlich im Umgang mit Protestierenden gegen Corona, aber auch mittels manch einer Debatte im politischen Berlin. Sein neues Buch ist nun der Beleg für diese Debattenfreudigkeit, verknüpft er doch gekonnt seine Erfahrungen und Perspektiven aus einer Pandemie, die wir alle durchleben mussten und somit einen individuellen Bezug zu ihr haben, mit Statements oder Positionen, die jede und jeder gut nachvollziehen kann.

Er verknüpft also seine politischen Forderungen mit einer persönlichen Relevanz für mehr oder weniger alle hierzulande beheimateten Menschen, benennt eigene Fehler, übt glaubhaft Selbstkritik und entwickelt daraus Visionen und Ideen für die Zukunft. Es ist eines der wohl umfassendsten und einnehmendsten Debattenbücher, die ein führender Politiker in den letzten Jahren hierzulande herausgegeben hat (ein Gruß geht an Friedrich Merz).

Dieses Debattenbuch sowie Spahns seit dessen Erscheinen wieder zunehmende öffentliche Präsenz – auf der Frankfurter Buchmesse lief er während eines Termins nicht nur an uns zielstrebig vorbei, die ausführliche RTL+Dokumentation Second Move Kills von Aljoscha Pause und diverse Auftritte in Talkshows – könnten ein Hinweis darauf sein, dass Jens Spahn sich noch lange nicht am Ende seiner Karriere sieht. Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Mitglied im CDU-Präsidium (ja, das ist er ja auch noch) dürften nur Zwischenstationen für ihn sein. Wir werden einander viel verzeihen müssen jedenfalls lässt eindeutig darauf schließen, dass einer hier noch Größeres vorhat. Was, das lässt sich in seinem Buch mindestens zwischen den Zeilen sehr gut herauslesen.

HMS

Cover Wir werden einander viel verzeihen müssen von Jens Spahn

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Jens Spahn (mit Olaf Köhne und Peter Käfferlein): Wir werden einander viel verzeihen müssen. Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise; September 2022; 304 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-453-21844-4; Heyne Verlag; 22,00 €

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