Vom Winde angeweht

Als Bob Dylan 2016 den Literaturnobelpreis bekam, war die Verwunderung groß. Nur wenige hatten mit dieser Wahl gerechnet und in der Tat ist dem Nobelkomitee damit ein mindestens mittelgroßer Coup gelungen. Dylans Wahl war ein Experiment – Ausgang vorerst ungewiss.

Blowin‘ in the wind ist Dylans wohl bekannteste Single und fast jedem von uns geläufig (was seine Wahl eigentlich unterstreicht). Und in den Wind geblasen oder vielmehr geschlagen hat Dylan auch diese höchste Auszeichnung des Literaturbetriebs. Zumindest fühlten sich viele ob seiner Reaktion aufgebracht – auch nicht ganz zu Unrecht. Da ist einer, der nicht zu schätzen weiß, welche Ehre ihm zuteilwird.

Es windet…

Welch Ironie, dass viele von uns gerade dem Objekt aus Dylans bekanntestem Liedtext, dem Wind, im Alltag ähnlich wenig Beachtung schenken. Woher der Wind weht, gehört in der Regel zu den Randnotizen des Wetterberichts, dass er überhaupt weht, nehmen viele oft kaum wahr. Dem hält die Autorin und Philosophin Kerstin Decker etwas entgegen, hat sie doch im Herbst 2023 im Berlin Verlag Eine kleine Geschichte des Windes veröffentlicht. 

Selbstredend kommt auch ihr Buch nicht ohne die wohl bekanntesten windigen Liederzeilen aus. Das zwölfte der vierzehn Kapitel trägt den Titel von Dylans Song. Vier immer wieder eingeschobene widmen sich der „Ernte“ von Wind in Form von Windkraft, die restlichen behandeln windbezogene Themen wie die Luftfahrtdie Nautik, die Rolle des Winds bei der Erkundung von Erde und Meeren. Und auch physikalische, meteorologische Grundlagen sowie die Aufarbeitung des Winds in Literatur, Philosophie und Kunst werden bei Kerstin Decker behandelt.

Zerstörerisches Lüftchen

Vielfach nehmen wir den Wind einfach als gegeben hin. Das laue Lüftchen nehmen wir vor allem dann wahr, wenn uns zu heiß ist und die Luft steht. Die Brise am Meer klingt vor allem an heißen Sommertagen verlockend. Nur Stürme, die gar nicht mit allzu viel Regen und dafür umso höheren Drehzahlen verbunden sein müssen, finden wir weniger gut. Gerade in ihnen äußert sich doch immer wieder die ihnen innewohnende Kraft der Zerstörung.

Dabei hängt unser Wetter, auch die zu stabilen Wetterbedingungen, aka Hitzewellen, der letzten Sommer hängen damit zusammen, nämlich mit einem Ausbleiben des Windes, der mal ein Tiefdruckgebiet in unsere Breiten hätte blasen sollen. Nicht ohne Grund war die Windrichtung nach dem Unglück von Tschernobyl im April und Mai 1986 wohl ausnahmsweise einmal die wichtigste Randnotiz für viele Menschen in Mitteleuropa.

Klima und Kultur

Es sind diese und viele weitere, kleinere Erkenntnisse, die wir bei der Lektüre der kleinen Geschichte des Windes machen. Ohne Wind wäre unser Wetter nicht das, was es ist. Interessieren wir uns beim Klimawandel vor allem für Kipppunkte wie das Abschmelzen der Eisschilde oder das Versiegen des Golfstroms – letzteres hätte übrigens gravierende Auswirkungen auf die Windströmungen –, ist das globale System der Winde und vor allem der Höhenwinde entscheidend für unser Wetter.

Ohne es zu wissen, waren es die frühen Kulturen, die den Windgöttern huldigten, während wir ihnen heute eher mit Geringschätzung begegnen. Auch hier frischt Kerstin Decker unser Wissen auf, streut immer wieder Fragmente älterer Mythologie oder philosophische Betrachtungen in ihre Ausführungen ein oder widmet ihnen auch teils ganze Kapitel.

Böenhafte Huldigung

Gerade diese Diversität der Themen und ihre Verknüpfung macht Eine kleine Geschichte des Windes zu einer Huldigung, die oft so überraschend ist wie eine plötzliche Windböe. Auch wenn sie sich innerhalb ihrer Kapitel einem bestimmten Themenkomplex widmet, gibt es doch immer überraschende Einsprengsel aus anderen Perspektiven, die der Wind offenbar an sie herangetragen hat.

Manche mögen die Struktur des Buches kritisieren, denn es scheint keiner allzu festen Systematik zu folgen, höchstens einer leichten Chronologie. Doch auch das ist weniger problematisch, denn wie ein plötzlich aufkommender Wind ist es doch auch hin und wieder anregend, wenn wir uns der unerwarteten Brise, äh Prise Geschichte, Philosophie oder Physik ergeben, genau wie dem Wind eben.

Dass Kerstin Decker promovierte Philosophin ist, ist dem Buch deutlich anzumerken. Wie gesagt, es gibt viele physikalische und meteorologische Erklärungen und Erläuterungen, aber die Philosophie, das Nachdenken über den Wind und seine gesellschaftliche Einordnung sind in diesem kleinen Buch immer wieder Teil der Erzählung. Das ist anspruchsvoll und erfordert einige Konzentration beim Lesen, aber gleichzeitig ist es überaus erkenntnisreich.

Mehr als bewegte Luft

Wind ist nichts mehr als bewegte Luft. Und da Luft uns permanent umgibt, fällt sie uns schon gar nicht mehr auf, gerade wenn sie steht. Kerstin Deckers Buch Eine kleine Geschichte des Windes ist ein bislang in der öffentlichen Debatte ähnlich wenig beachtetes Sachbuch-Kleinod, das aber mit umso mehr Inhalt aufwarten kann.

Aktuell ist es in der Kategorie Überraschung für den Wissensbuchpreis von bild der wissenschaft nominiert. Da das kleinformatige Buch bestimmt in so manchem Bücherregal steht und dort einzustauben droht, bringt diese Nominierung vielleicht den Windhauch, der das zu verhindern weiß und die Menschen dazu bringt, sich mit dem Alltagsphänomen Wind zu beschäftigen. Lohnenswert ist dies allemal.

HMS

PS: Per Publikumsvoting kann noch bis zum 15. August 2024 abgestimmt werden.

Kerstin Decker: Eine kleine Geschichte des Windes; Oktober 2023; 256 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-8270-1492-4; Berlin Verlag; 22,00 €

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