Von Minderheit und Menschlichkeit

Ein Element der Theorie der politischen Imperien ist der so genannte Barbarendiskurs. Das Imperium ist hier ein Hort der Zivilisation, von Kultur und Anstand und es wird von den wilden und unzivilisierten Barbaren bedroht. Sie werden also zu Aussätzigen, zu Flegeln, zu gefährlichen Minderheiten deklariert.

Und aus genau dieser Perspektive schreibt nach eigenem Bekunden die Autorin Asal Dardan in ihrem bei Hoffmann und Campe erschienen Buch Betrachtungen einer Barabarin über Deutschland, unsere Gesellschaft und unsere Werte. Das Buch bietet spannende Einblicke in unser tägliches Leben aus einer für viele von uns völlig neuen Sichtweise. Nicht umsonst ist es daher für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiert, der am 14. Juni vergeben wird.

Erfahrungen von vielen Minderheiten

In zehn Essays setzt Dardan sich mit manch größeren und manch kleineren Themen unserer Gesellschaft auseinander und nimmt dabei immer wieder verschiedene Rollen und Perspektiven ein. Sie schildert als Kind iranischer Eltern die Kindheit in Deutschland „mit Migrationshintergrund“, wie es so schön heißt. Es geht um die Erfahrung als Kind einer lange Zeit alleinerziehenden Mutter aufzuwachsen. Sie schreibt über ihre Erlebnisse im Internat und auch mit Mitschülerinnen und Mitschülern aus teils gut betuchten Familien.

Sie schreibt über den Irrsinn deutscher Bürokratie für die Witwenrenten von Gastarbeitergattinnen auf Sardinien, über ihr Leben in Berlin und die Details, die sie auf dem Weg in die Kita faszinieren. Sie beschreibt das Gefühl einer ungewollten Schwangerschaft und wie – im Vergleich zu Deutschland – leicht es ihr gemacht wurde, einen Schwangerschaftsabbruch in ihrer zwischenzeitlichen Heimat Schweden durchführen zu dürfen. Und sie beschreibt sehr gut, wie es ist, ihren Kindern eine gute Mutter sein zu wollen. Sie nimmt also ganz unterschiedliche Positionen ein, die für sich betrachtet vielleicht Minderheitspositionen sind, aber am Ende doch irgendwie einen Querschnitt der Gesellschaft darstellen oder auch zeigen, wie fast jeder einer gewissen Gruppe oder Minderheit angehören kann.

Die barbarische Fremdheit im eigenen Land

All das verknüpft sie wunderbar mit verschiedenen Aspekten der Zeitgeschichte. Ganz egal, ob es der NSU-Prozess ist, Pegida und der aufkeimende Rechtsextremismus, die Anschläge von Halle und Hanau, Flucht und Migration, die uns in den vergangenen Jahren stark beschäftigten oder auch der Umgang mit der Vergangenheit: Asal Dardan schlägt von ihrer eigenen Biografie häufig und sehr gekonnt den Bogen zu größeren Themen und Problematiken unserer Gesellschaft.

Wie ist es beispielsweise für die Tochter von Eltern, die wegen der Islamischen Revolution aus dem Iran fliehen mussten – wie auch viele andere bis heute, nicht zuletzt Homosexuelle – in Deutschland zu leben, sich als Deutsche zu fühlen, die deutsche Sprache und Kultur gut zu kennen, Deutsche zu sein und doch von vielen nicht als Deutsche wahrgenommen zu werden? Der latente institutionalisierte Rassismus, den sie über das gesamte Buch hinweg anspricht, ist in unserer Gesellschaft vorhanden, aber wie es sich anfühlt damit leben zu müssen, das wissen nur diejenigen, die darunter leiden und ihn am eigenen Leib erfahren müssen. Sie hält uns ähnlich wie der deutsche Schriftsteller Dmitrij Kapitelman in seinem Roman Eine Formalie in Kiew (ukrainischer „Migrationshintergrund“) den Spiegel vor, wie es ist, sich im eigenen Land, der eigenen Heimat, fremd zu fühlen. Insoweit lädt Betrachtungen einer Barbarin unbedingt zum Blick über den eigenen Tellerrand hinaus ein.

Starke Stimme für jeden Einzelfall

Ganz deutlich wird dies auch in dem nur kurzen, aber nicht weniger eindrücklichen Kapitel, in dem sie ihren Schwangerschaftsabbruch beschreibt. Die Hälfte der Menschen ist damit per se nicht befasst, da ohne Gebärmutter. Aber jeder scheint eine Meinung zu der Thematik zu haben und die sei ihm oder ihr auch zugestanden. Am Ende geht es aber stets um das Wohl und den Willen der Frau, die das Kind in sich trägt.

Die auch und besonders hierzulande vorherrschenden Debatten um Werbung für Schwangerschaftsabbrüche werden oft sehr emotionalisiert geführt, mit teils verhärteten Fronten, auf Basis von Ideologie und als Gewissensdebatten verpackt. Per se ist es ja gut, dass wir sie führen, aber am Ende drehen sie sich oft nicht um das Wohl der Mutter, die mit den Konsequenzen (aka Kind) leben und dafür Sorge tragen muss, sondern eben um Ideologie, Religion und was auch immer. Diesem Diskurs fügt Asal Dardan mit ihren mutigen Äußerungen eine starke Stimme hinzu, die von vielen Menschen gehört werden sollte, denen es nur um Prinzipien und Ideologie geht.

Und – auch das fällt sehr positiv auf – sie schafft es sehr gekonnt, den Bogen von einem Einzelfall – häufig sich selbst, aber beispielsweise auch unter ausführlichen Rückgriff auf die Geschichte von Olga Benario-Prestes, einer schwangeren Gefangenen der Nazis – auf die größeren Themen und Fragen zu spannen und umgekehrt. Von hier geht es beispielsweise um den Umgang mit Kindern und Müttern in unserer Gesellschaft, um das Unrecht und die Benachteiligung, die ihnen häufig zuteilwerden. Und umgekehrt wirbt sie dafür, auch immer die Einzelfälle zu betrachten, beispielsweise die Geschichten der Individuen, die durch den NSU-Terror nachweislich ihren Tod fanden (und nicht nur „die zehn Toten des NSU“). Denn hinter jedem Einzelfall steckt ein Schicksal, das mal gut, mal schlecht, aber immer gleich in seiner Wertigkeit ist und sein muss.

Kritik an der Barbarin

Gibt es denn an den Betrachtungen einer Barbarin etwas zu kritisieren? Drei Punkte fallen einem hier vielleicht ein: Erstens bilden die zehn Geschichten nur einen Ausschnitt aus dem Leben und den Betrachtungen der Asal Dardan. Vermutlich gäbe es noch weitere Perspektiven und Betrachtungen, weitere Untersuchungsgegenstände und Beispiele, wie sie ihre Umwelt und unsere Gesellschaft wahrnimmt, welche Probleme sie sieht. Aber gleichzeitig kommt ihr Anliegen deutlich zum Vorschein und es in diesen zehn Kapiteln kurz und prägnant zusammenzufassen, muss keine Schwäche sein, ganz im Gegenteil.

Zweitens: An einer Stelle steht sie vor dem Thälmann-Denkmal im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und ihre Distanzierung vom von der sozialistischen Ideologie Thälmanns fällt leider ein wenig schwach aus (Carmen Rohrbach setzt sich in einem Randaspekt weit kritischer mit dem Sozialisten Ernst Thälmann auseinander), was uns sauer aufstieß. Ein Halbsatz oder eine Randbemerkung zu den Gräueln auch des Sozialismus – Ljuba Arnautovic beschreibt diese sehr gut in ihrem Roman Junischnee – würde diesen Zweck bereits erfüllen.

Die Vergangenheit und die Zukunft und ein Appell an alle Barbaren

Und drittens befasst Dardan sich sehr stark mit der Vergangenheit, wenig jedoch mit der Zukunft. Sie verweist auf große wie auf kleine Punkte in der Vergangenheit und baut darauf ihre Argumentation auf. Das ist gut und das ist wichtig, denn nicht zuletzt wir als Deutsche sind aufgefordert, uns stets aktiv mit der Geschichte auseinanderzusetzen, wie es beispielsweise Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seinem jüngst erschienenen Buch Grenzerfahrungen schreibt. Allerdings bleiben ihre Ausführungen, wie wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen sollen, leider manches Mal eher nur Andeutungen. Klar, bei kritischen Leserinnen und Leser kommt die Botschaft vermutlich an, aber es gibt auch Menschen, die hier etwas mehr Plastizität benötigen. So schön Dardan es schafft, größere und wichtige Bögen zu spannen, den von der Vergangenheit zur Zukunft und zu aktiven Veränderungen und Maßnahmen deutet sie oft leider nur an.

Nichtsdestoweniger führt Asal Dardan all diese Gedanken und noch viele mehr in ihrem letzten Kapitel ein wenig zusammen und appelliert an die Leserinnen und Leser, der Barbarei um sich herum den Kampf anzusagen. Das ist gut und das ist wichtig und es zeigt, dass der Barbarendiskurs vielleicht nicht nur denen gelten sollte, die sich jenseits des „Imperiums“ wiederfinden, sondern ein ehrlicher Diskurs über die Barbarei auch im Inneren geführt werden muss, denn das Wilde, Unkultivierte und Ungezähmte ist leider auch bei uns noch präsenter als wir es uns wünschen und leisten können. Ihr Buch Betrachtungen einer Barbarin ist daher ein überaus bedeutender Debattenbeitrag und nicht ohne Grund für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiert.

HMS

Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin; 2. Auflage 2021; 192 Seiten; Gebunden, mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-455-01099-2; Hoffmann und Campe Verlag; 22,00 €; auch als eBook

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert