Wie der österreichische Arzt und Autor Arthur Schnitzler (seine) Träume verarbeitete, ist schon eine recht spezielle Angelegenheit. Die meisten Menschen dürften schon einmal von seiner Traumnovelle gehört haben. Diese erschien 1926 erstmals als Buch im S. Fischer Verlag. Zuvor wurde sie in der Zeitschrift Die Dame in den Heften sechs (Dezember 1926) bis zwölf (März 1926) abgedruckt. Eine schöne Sache übrigens, die Magazine, Autor*innen wie Verlage heute leider nicht mehr betreiben.
Von Wien über New York nach Berlin
Dafür werden heute mehr und mehr Stoffe erstmals oder neu verfilmt und interpretiert. So auch die Schnitzler’sche Traumnovelle, derer sich zuletzt 1999 das eigenwillige Regie-Mastermind Stanley Kubrick annahm. Dieser starb während der Postproduktion von Eyes Wide Shut mit Tom Cruise und Nicole Kidman in den Hauptrollen und konnte so die recht gespaltenen Reaktionen zum kommerziell erfolgreichen Film nicht mehr wahrnehmen.
Kubrick verlagerte die Handlung ins winterliche New York der Jahrtausendwende, entzog den Hauptfiguren ihre jüdische Identität, erfand neue Charaktere hinzu und schuf einen Film, der zumindest von erzählerischem wie inszenatorischem Mut geprägt war. Regisseur und Autor Florian Frerichs verlegt die Geschichte gemeinsam mit Co-Autorin Martina van Delay in seinem morgen im Kino startenden Film wiederum ins heutige Berlin und besetzt Nikolai Kinski als den „guten Doktor“ Jacob und Laurine Price als dessen Frau Amelia.
Erotik und Fetisch
Womit er die Hauptrollen mit zwei Schauspielenden besetzt hat, die Wärme ebenso vermitteln können wie innere Ruhe, stoisches wie erotisches Brodeln, Resignation, Kälte und Sorge. Das ist gut. Weniger gut ist, dass Frerichs zwar elegante Bilder kreiert, die Kameramann Konstantin Freyer fein umsetzt, dabei aber doch allzu glatt bis, nun, mutlos bleibt.

So wirkt es an mancher Stelle, als würden nicht nur Kinski und Price ab und an darauf warten, loslegen zu dürfen. Einzig Detlev Buck als zwielichtiger, tätowierter Connection-Betreiber und Kostümverleiher Gibiser, der seinen Sohn von zwei Dominas auspeitschen lässt… oder sie zumindest erwischt. Eine nette Abwandlung zu Schnitzlers Vorlage.
„Weil, wenn es nichts weiter als Lust ist,…“
Alles beginnt in dieser Traumnovelle damit, dass die wohlsituierten Jacob und Amelia ihr (nicht-binäres) Kind Henny (Casimir Teuffel von Birkensee) ins Bett bringen und danach im Wohnzimmer der gut ausgestatteten Wohnung die vergangene Nacht Revue passieren lassen. In dieser hatten sie seit Monaten zum ersten Mal wieder Sex. Zuvor ging es in eine FSK12-Variante des KitKatClubs, wo Jacob mit zwei Frauen flirtete, die faszinierenden Weiten eines per App gesteuerten Vibrators kennenlernen durfte und Amelia mit einem Fremden tanzte.

Amelia erzählt von sexuellen Fantasien, die sie seit einem Dänemarkurlaub habe. Dort sei ihr ein anderer Fremder aufgefallen, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf gehe, an den sie jedes Mal denke, wenn sie nun mit Jacob ficke. Bei Darsteller Patrick Mölleken ist das nachvollziehbar. Vielleicht nicht im Extrem „jedes Mal“, aber ein wenig Kopfkino darf sein. Zumal Amelia es in Ermangelung der Umsetzung bei der Fantasie belassen muss. Und Fantasien sind häufig nachhaltiger als das eigentliche Geschehen (Ausnahmen bestätigen die Erinnerungsregeln).
„…nicht real ist.“
Der eher zugeknöpfte Jacob ist relativ konsterniert. Zwar hatte auch er in diesem Urlaub eine Begegnung mit einer schönen Frau (wobei diese mit dem Entdecken und Ansehen eines nackten jungen Mannes beginnt, bevor besagte Frau ins Bild kommt), doch scheint diese nicht seinen Fickmodus zu prägen. Plötzlich wird Jacob von der Tochter seines Patienten Alois (Stephen M. Gilbert), Marianne (Nike Martens), kontaktiert – der Vater läge im Sterben.

Als Jacob bei ihr eintrifft, liegt der Herr Papa schon tot im Bett. Was Marianne dazu bringt, Jacob ihre Liebe zu gestehen, mit ihm leben und ihren Verlobten Professor Roediger (Rodney Charles) verlassen zu wollen. Der Herr Doktor weist sie höflich zurück und entflieht nach Ankunft Roedigers der Szenerie. Nun streift Jacob eher ziellos durch die Stadt. Trifft auf eine Gruppe junger Männer, die ihn homophob beleidigt (in der Novelle antisemitisch), begegnet der jungen Prostituierten Mizzi (Nora Islei) und trifft in der realen Burlesque–Theater-Bar Kleine Nachtrevue (Sharon Brauner performt sehr fein) seinen alten Freund, den Arzt und Klavierspieler Nachtigall (Bruno Eyron).

Dieser erzählt ihm von einem Gig auf einer mysteriösen Party in einer alten (Nazi-)Villa am Wannsee. Dort spiele er maskiert, was genau da vorgehe, wisse er nicht. Doch einmal sei die Maske verrutscht und er sah die schönsten Frauen und Männer, die man(n) sich nur denken könne. Etwas widerwillig verrät Nachtigall Jacob das Zugangspasswort – „Verdi“. Nun muss der Herr Doktor sich nur noch einen Umhang und eine Maske besorgen und los geht der Spaß.
Gentrifizierung, die
Oder auch der Albtraum. Denn auf der von der High Priestess (Sharon Kovacs, die auch singt) geleiteten Tanz-Und-Irgendwas-Sexuelles-Nummer geht sich das alles nicht wirklich gut aus, für den sichtlich überforderten Jacob…
So viel zur Handlung. Im Kern geht es in der Traumnovelle ohnehin weniger um das Geschehen als solches, als um den Umgang mit unterdrückten Sehnsüchten, Eifersucht und Verletzung, Zweifeln wie auch die Beobachtung einer sich wandelnden Welt. In der Umsetzung Florian Frerichs‘ ist diese eine etwas seltsam anmutende Mischung aus dem Sündenpfuhl Berlin und der durchgentrifizierten Glasmetropole Berlin. Das mag so recht nicht zusammenpassen, werden hier doch keine sexuellen oder menschlichen Abgründe hinter edlen Fassaden aufgedeckt. Eher wirkt es, als hätten die letzten den Schuss, dass das Berlin von vor zwanzig oder gar noch knapp zehn Jahren nicht mehr existiere, noch nicht gehört und würden sich am Mythos des sündigen Babels festklammern.
„Irgendwo anders hin“
Ähnlich fest klammert sich Florian Frerichs an Arthur Schnitzlers Vorlage. Der Film ist zumindest im Ablauf weniger Interpretation als Zitat. Wenn es allerdings um die Darstellung der Figuren geht, zeichnet er ein sehr glaubhaftes Berlin-Bild: People of Colour, Queers oder dicke Menschen – hier wird’s echt. Ebenso freuen manche Film-Nerd-Gimmicks, wie G. Romero oder „Hal655321“ oder auch, dass einmal bei einer Berlin-Tour nicht zwangsweise über die Oberbaumbrücke gefahren werden muss. Der Eröffnungsshot über den Bahnhof Friedrichstraße, den Admiralspalast und Co. ist zudem eine sehr feine, so noch nicht gesehene Nummer.
Etwas sehr augenscheinlich ist dann wiederum die Verknüpfung zu Verdis Oper Der Maskenball, in der es ebenso um unterdrückte Sehnsüchte geht. Zunächst ganz witzig sind die Szenen, in welchen sich Kinskis Jacob auf die Bühne fantasiert – was immer hustend, speiend oder blutend für die ihn Umgebenden ausgeht. Doch nutzt sich das fix ab. Dass Jacob, an dessen Gedanken wir immer mal teilhaben, sich am Ende noch sehr random an uns wendet und die Vierte Wand durchbricht, irritiert und passt nicht.

Es ist überhaupt bedauerlich, dass wir Jacob zwar folgen, doch im Grunde nicht wissen, was ihn nun so umtreibt. Der Bruch, der geschieht, als Amelia ihm von ihren Fantasien berichtet, wird nie deutlich – entweder kennen die Zuschauer*innen die Vorlage und wissen so um die Wirkung oder sie erahnen es. Letztlich bleibt er aber Behauptung. Generell sind die Gespräche zwischen dem Paar nicht nur distanziert, sondern auch gestelzt. Frerichs drehte aus Gründen besserer internationaler Vermarktungsmöglichkeiten auf Englisch. Leider ist die Synchronisation teils schlicht nicht sonderlich gut und die im Präteritum wiedergegebenen Gedanken Amelias sollen vermutlich geheimnisvoll-elegant sein, kommen allerdings eher unfreiwillig komisch daher. Und Buck hätte nun allein schon der Berliner Authentizität wegen Deutsch sprechen sollen. Schade! Wirklich.
Irritierende Indifferenz
So fühlt sich diese Umsetzung der Traumnovelle auf der einen Seite nett an. Die größtenteils hübschen Bilder werden gern betrachtet. Wenn auch ausgerechnet die Inszenierung der Maskenball-Orgie beinahe so bieder daherkommt, als würden die Bibeltreuen Christen sich zum Backen mit Psalmen-Rezitationen aufmachen. Momente von Spannung kommen kaum auf, so – durchaus gewollt – ausdruckslos Jacob durchs nächtliche Berlin streift, wohnen wir alledem auf irritierend indifferente Weise bei. Erotisch oder gar verrucht ist hier kaum ein Moment. Ob sich das alles mit einem niedrigen und durchaus optisch ansprechend genutzten Budget erklären lässt, darf bezweifelt werden.

Das ist bedauerlich. Merkt mensch dem Film doch irgendwie das Herzblut, die Ambition an. Durchaus hat er seine Momente sowie primär starke Darsteller*innen. Und doch bleibt am Ende leider nicht allzu viel übrig, außer dem Wunsch, die Vorlage Arthur Schnitzlers nochmals zu lesen (im Anaconda Verlag ist sie 2023 in hübscher Aufmachung erschienen) und sich nach langen Jahren erneut Eyes Wide Shut zu geben (siehe auch PS).
Was es nach dem Abspann mit dem großen Schlussapplaus des Publikums der Verdi-Oper auf sich hat, ist ebenfalls eine Frage, die sich verwirrt stellen lässt. Ausdruck eines Wunsches? Möglich. Nun, vieles in der Traumnovelle ist halt Fantasie.
AS
PS: Nicole Kidman, die in Eyes Wide Shut für die mutigere Form der Sexualität wie auch das bessere Spiel stand (Tom Cruise ist halt kein guter Schauspieler, er hat exakt zwei Gesichtsausdrücke – angespannt und smirking), ist ab dem 30. Januar 2025 erneut in einem Erotik-Thriller zu sehen. In Babygirl beginnt ihre Figur eine SM-geprägte Affäre mit ihrem von Harris Dickinson gespielten Praktikanten. Dürfte spicy werden! Wir lassen es euch in Bälde wissen.
PPS: Na, die „Charité“ kennen wir doch aus dem Doppel-Tatort Nichts als die Wahrheit, was?!!
PPPS: Womöglich schaue ich mir den Film bei Gelegenheit einmal in englischer Sprache an – der Trailer vermittelt jedenfalls einen flüssigeren Eindruck, als die allzu theatralische deutsche Synchronisation.

Arthur Schnitzlers Traumnovelle startet am 16. Januar 2025 im Kino.
Arthur Schnitzlers Traumnovelle; Deutschland 2024; Drehbuch, Regie und Schnitt: Florian Frerichs; Bildgestaltung: Konstantin Freyer; Musik: Tuomas Kantelinen, Sharon Kovacs, Jonathan Quarmby; Darsteller*innen: Nikolai Kinski, Laurine Price, Detlev Buck, Nora Islei, Nike Martens, Bruno Eyron, Sharon Kovacs, Patrick Mölleken, Katharina Gerhardt, Rodnew Charles, Sharon Brauner, Casimir Teuffel von Birkensee, Gianpolo Bentivegna, u. a.; Laufzeit ca. 109 Minuten; FSK: 16; Eine Produktion von Warnuts Entertainment, in Kooperation mit Thomas Kretschmar Film, Gretchen Film, K-Motion und Studio Babelsberg; im Verleih der Apollo-Film und im Vertrieb der Barnsteiner-Film
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!
Comments