Warum den Tod fürchten?

Beitragsbild: The Midnight Club; v. l. n. r.: Aya Furukawa als Natsuki, Annarah Cymone als Sandra, Adia als Cheri, Igby Rigney als Kevin, Sauriyan Sapkota als Amesh (stehend), Ruth Codd als Anya, Chris Sumpter als Spencer (stehend), Iman Benson als Ilonka // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Eine Frage, mit der sich (nahezu) jede Person im Leben mindestens einmal auseinandersetzen muss, ist jene, wie er*sie mit dem Verlust eines geliebten und geschätzten Menschen umzugehen in der Lage ist. Dass das ein Prozess ist, den mensch zwar verdrängen aber nicht nicht durchleben kann, ist vermutlich den meisten bewusst. Ein Thema, mit dem wir uns hingegen seltener konfrontiert sehen, ist jenes des eigenen unvermeidlichen Ausderweltscheidens.

Weggeschoben ist nicht aufgehoben

Überhaupt ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ende nicht nur in der Öffentlichkeit ein Tabuthema, auch im eigenen Leben versuchen wir dies gern zu verdrängen. Wenn es halt irgendwann einmal mit 80plus geschieht – sei’s drum. Wir schieben es so lange wie möglich weg, bis vielleicht eines Tages eine letale Krankheit unsere Perspektive verschiebt. 

Igby Rigney als Kevin, Adia as Cheri, Chris Sumpter als Spencer, Aya Furukawa als Natsuki, Iman Benson als Ilonka, Ruth Codd als Anya, Annarah Cymone als Sandra // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

So geht es jedenfalls den Jugendlichen in Mike Flanagans (und Leah Fongs) neuer Serie Gänsehaut um Mitternacht (OT: The Midnight Club), die seit Anfang Oktober bei Netflix verfügbar ist und auf den Young-Adult-Novels von Christopher Pike (der hier auch produziert) basiert. Die Bücher sind mir bekannt, gelesen habe ich sie jedoch nie (in Deutschland schienen sie auch weniger erfolgreich als in den USA und anderen Ländern). Das aber trübt die Serienerfahrung eher nicht. 

Ein bunter Strauß Menschen 

Zu Beginn lernen wir Ilonka (Iman Benson) kennen, die Mitte der 90er-Jahre zu den leistungsstärksten Schülerinnen ihres Jahrgangs zählt und sich nun auf ein anstehendes Studium vorbereitet. Bis sie jäh von der Diagnose Schilddrüsenkrebs aus ihrem Alltag und ihren Lebensträumen gerissen wird; erst recht, als es wenig später heißt: Unheilbar, sie ist dem Tod geweiht. Statt nun vergeblich um ihr Leben zu kämpfen und ihre letzten Monate für nichts leidend zu verbringen stößt sie auf ein Hospiz für Jugendliche und junge Erwachsene namens Brightcliffe Home.

Im von Dr. Georgina Stanton (Horrorlegende Heather Langenkamp) geleiteten Hospiz trifft sie auf eine Gruppe unterschiedlichster junger Menschen, die auf den ersten Blick lediglich das geteilte, zwangsläufige Schicksal zu verbinden scheint. Kevin (undurchsichtig: Igby Rigney) leidet unter Leukämie; Anya (packend: Ruth Codd) ist Ilonkas Zimmergenossin und an Knochenkrebs erkrankt, der sie bereits ein Bein kostete; über Cheris (herzlich: Adia) Erkrankung wissen wir lange nichts, wohl aber, dass sie aus wohlhabendem Hause kommt und eine pathologische Lügnerin ist.

Der Midnight Club: Iman Benson als Ilonka, Igby Rigney als Kevin, Annarah Cymone als Sandra, Ruth Codd als Anya, Adia als Cheri Ian, Chris Sumpter als Spencer, Aya Furukawa als Natsuki, Sauriyan Sapkota als Amesh // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Ganz anders Sandra (glaubwürdig: Annarah Cymone), die eine hingebungsvolle Christin ist und ein tödliches Lymphom hat; Natsuki (vielseitig: Aya Furukawa), die an Eierstockkrebs erkrankt ist und sich zusätzlich noch mit Depressionen auseinandersetzen darf; Spencer (bewegend: Chris Sumpter), der AIDS hat und zu guter Letzt noch Amesh (vielschichtig: Sauriyan Sapkota), der unter einem Glioblastom leidet, kurz vor Ilonka ankam und sich wünscht, dass das Leben hier stärker einer Studentenverbindung gliche, samt Hazing.

Folie à deux

Ilonka wollte jedoch nicht nur nach Brightcliffe, um sich dort dezent abgeschieden und umgeben von ihresgleichen vom Leben zu verabschieden, sondern auch, weil sie in Träumen und Visionen immer wieder das Haus und gespenstische Gestalten in diesem auftauchen sah. Ebenso liest sie davon, dass eine frühere Patientin auf unerklärliche Weise wieder gesund geworden sei. Neben diesen mystisch-gruseligen Momenten trifft sich die Gruppe auch allnächtlich in der fabelhaften Bibliothek und erzählt einander Grusel-, Krimi– oder Sci-Fi-Geschichten, die nicht selten auf ihre eigene Persönlichkeit oder Vergangenheit verweisen.

Katie Parker als Aceso // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Das ist natürlich ein interessante Herangehensweise von Flanagan und Fong, die im Grunde zwei Serien in einer schafft. Allerdings stoppt dadurch die Handlung um die Geschichte des Hauses und die seltsamen Vorgänge immer wieder, nehmen die Mitternachtsgeschichten doch gern mal die Hälfte der nicht selten 60-minütigen Episoden ein. Das klappt mal mehr, mal weniger.

„Mehr als Dahmer, weniger als Bundy“

In manch einer Folge freut mensch sich mehr auf die Stories der Nacht, da die Geschichte um Ilonka (und zusehends Kevin sowie eine undurchsichtige Frau namens Sashta, gespielt von Samantha Sloyan) zur Mitte der ersten Staffel etwas stockt und manche der Geschichten hier eine willkommene und nicht selten weit stimmungsvoll-gruseligere Abwechslung zur Rahmenhandlung bieten. Doch nicht jede Story (die größtenteils auf weiteren Büchern und Geschichten von Pike basieren) funktioniert, manch eine verrennt sich, andere wirken nicht fertig gedacht. 

Emilija Baranac als und Igby Rigney als Kevin/Dusty // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Andererseits mag das je nach individuellem Geschmack jede*r anders beurteilen. Das gibt es Geschichten, die klassischen Grusel abbilden (die erste Folge ist für die meisten Jump Scares im Guinness Buch der Rekorde gelandet – Mike Flanagan, der kein Fan derselben ist, sagte, er wolle sie damit für den größten Teil der Staffel aus dem Weg schaffen), eine Story die an Black Swan denken lässt, Blade-Runner-Terminator-Geschichten, eine wunderbare Serienkillergeschichte, eine Crime-Noir-Story, die Geschichte einer möglichen Selbsttötung, … 

Emotionalen Ballast beerdigen

…das Portfolio ist hier also recht üppig und so wundert es kaum, dass diese Serie einmal – untypisch für Flanagan – keine Mini-Serie ist, sondern über mehrere Staffeln laufen soll. Somit enden wir natürlich mit mach einem (vorhersehbaren) Cliffhanger. Es scheint allerdings auch nicht die Absicht der Macher*innen gewesen zu sein, hier die spannendste und unheimlichste aller Geschichten zu erzählen, sondern eher eine über Leben, Abschied, Zurückweisung und Ableben. 

Heather Langenkamp als die zugewandte aber undurchsichtige Dr. Georgia Stanton und Zach Gilford als Mark // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Immer wieder steht der Umgang mit diesen Themen im Zentrum oder schleicht sich heimlich vom Rand heran (ganz so wie der Tod also des Öfteren), was die Serie auf Handlungsebene zwar holprig, auf der Ebene emotionaler Herausforderung dafür aber umso vielschichtiger sein lässt. Denn natürlich gibt es hier nicht nur (vermeintliche) Dämonen im Haus, sondern auch in der Vergangenheit der Jugendlichen. Die Darsteller*innen sind übrigens allesamt überzeugend in ihren verschiedenen Rollen, spielen sie doch auch in den diversen Geschichten verschiedene Charaktere. Eine Herausforderung, an der schon weit versiertere (aka viel, viel ältere) Spielende massiv gescheitert sind. Cudos! 

Familie ist, was wir Familie sein wollen lassen

Ob es darum ging, immer perfekt sein zu wollen oder zu müssen, als Gefühlsersatz herzuhalten oder von der eigenen Mutter und der Kirche, mit der mensch aufwuchs, aufgrund der eigenen Homosexualität verstoßen zu werden, die Themen und Traumata sind so vielfältig wie die einzelnen und größtenteils gut erzählten Figuren.

Chris Sumpter as Spencer/Rel und John C. MacDonald als Christopher Perry // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Insbesondere die Geschichten von Natsuki, deren Depressionen sie seit Jahren begleiten, und Spencer, dessen Mutter ihn nie besuchen kommt, und der das mit Homosexualität UND AIDS verknüpfte Stigma kaum verarbeiten kann, erreichen eine*n hier. Zwischen Spencer und dem Pfleger Mark (Zach Gilford) entwickelt sich dazu eine sensible und fantastisch geschriebene Freundschaft, die vielen ans Herz gehen und manch einen Gedankengang über das eigene Leben und Umfeld in Gang setzen dürfte (überhaupt sind Ausgrenzung und Stigma uns queeren Menschen wohl nichts Unbekanntes).

Teenager, aber keine Kinder

So lernen wir also in knapp zehn Stunden nicht nur einen Haufen größtenteils sympathischer, individueller Figuren kennen, sondern auch so manches über das Leben und das nahende Ende desselben. Dass selbst Kalenderspruch-ähnliche Sätze wie „Warum den Tod fürchten? Das heißt, der Schmerz ist vorüber“ funktionieren, zeigt, dass Gänsehaut um Mitternacht/The Midnight Club in vielerlei Hinsicht weiß, wen mensch hier was sagen lässt (und wen darauf reagieren). 

Der Mitternachts-Club in der Bibliothek // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

Die Serie ist ein solider Binge-Watch mit weniger Grusel dafür mehr Gehalt, als es zuerst den Anschein haben mag. Nach packender und tränenreicher Traumaverarbeitung in Spuk in Hill House und anderer Art von Vergangenheitsbewältigung in Spuk in Bly Manor arbeitet Flanagan weiter daran Horror/Mystery in neuem Gewand zu erzählen und um einen großen emotionalen Effekt zu erweitern. Wer allerdings ausgesprochener Fan der beiden erstgenannten Shows ist, sollte wissen, dass The Midnight Club einem anderen Tempo und Ton folgt, wenn es auch weit weg von einer typischen Young-Adult-Grusel-Serie ist. 

AS

PS: Noch ist die Serie nicht offiziell verlängert; Flanagan aber hat einen längeren Deal mit Netflix. Also ist es gut möglich, dass es wie bei Ryan Murphy läuft, parallel an diversen Projekten gearbeitet wird und daher länger auf offizielle Verlautbarung gewartet werden könnte (Hey, Ratched!). 

Aya Furukawa als Natsuki, Sauriyan Sapkota als Amesh, Adia als Cheri, Autor/Regisseuer Mike Flanagan, Kamermann Jimmy Kniest, Igby Rigney als Kevin am Set von Gänsehaut um Mitternacht // Foto: Cr. Eike Schroter/Netflix © 2022

PPS: „In a place, where so many young people die, before their time with unfinished business, the only ghosts you see are two, like, old people.“ Es gibt feinen Humor in der Nummer und natürlich reichlich Anspielungen auf die Popkultur der 1990er. 

PPPS: „Life is so fucking hard. And it’ll hurt.“ // „Death is getting familiar now. It lives here.“ – Das wird mal unterschrieben. 

Gänsehaut um Mitternacht (OT: The Midnight Club); USA 2022; kreiert von Mike Flanagan und Leah Fong basierend auf den Jugendbüchern von Christopher Pike; Musik: The Newton Brothers; Drehbuch: Leah Fong, Julia Bicknell, Mike Flanagan, Elan Gale, Jamie Flanagan, Chinaka Hodge, Regie: Mike Flanagan, Michael Fimognari, Emmanuel Osei-Kuffour Jr., Axelle Carolyn, Viet Nguyen, Morgen Beggs; Produktion: Mike Flanagan, Leah Fong, Trevor Macy, Julia Bicknell, Christopher Pike; Darsteller*innen: Iman Benson, Igby Rigney, Ruth Codd, Annarah Cymone, Chris Sumpter, Adia, Aya Furukawa, Sauriyan Sapkota, Matt Biedel, Samantha Sloyan, Zach Gildford, Heather Langemkamp; zehn Folgen à ca. 49–58 Minuten; FSK: 16; seit dem 7. Oktober 2022 auf Netflix 

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

  1. Habe ich genauso erlebt wie hier geschildert. Mir sind die Charaktere sehr ans Herz gewachsen und ich fand die Auseinandersetzung mit dem Tod und tödlichen Krankheiten unfassbar gut. Vielleicht hat mich Ilonkas Verbissenheit etwas genervt, aber das ist offenbar eben auch ein Teil des Erlebens, wenn man mit einer solchen Situation konfrontiert wird.

    Wie ihr auch geschrieben habt, ist es eben nicht die klassische Gruselserie wie man sie nun vielleicht inzwischen von Flanagan erwartet und funktioniert anders. Wer also eure Review liest ist besser darauf vorbereitet als ich und wird vielleicht etwas glücklicher mit der Serie. 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert