„Alles dazwischen, darüber hinaus“ nennt Maë Schwinghammer einen Roman. Aber eigentlich ist es eine Art Therapieanleitung für ein richtiges Leben in Tagebuchform.
Von Nora Eckert
Wir haben es hier mit einer Coming-of-Age-Geschichte zu tun und schließlich auch mit einer Coming-out-Geschichte, die bestätigen, dass wir uns erst selbst finden und für uns selbst erst erklärbar werden müssen, um das Wer und Was wir sind, anderen erklären zu können.
Der kleine Junge, den uns die Autor*in vorstellt, wächst in dem Wiener Bezirk Simmering auf, einem Arbeiter- und Industriebezirk und alles andere als eine feine Gegend. Michael hat eine Sprachhemmung, eine Sprachentwicklungsverzögerung, wie es heißt. Außer der Mutter versteht ihn niemand. Sie muss also ständig übersetzen. „Meine Mama übersetzt zwischen der Welt und mir.“
Als die Mutter im Kindergarten mit der Erzieherin darüber spricht, schnappt Michael das Wort „Störung“ auf, um sofort zu ahnen, dass das nichts Gutes bedeuten könne:
„‘Ich ab leine Örun.‘ Rufe ich empört hinein, meine Augen röten sich. ‚Natürlich nicht, du bist ein ganz besonderer Junge.‘“
Aber diese Erklärung macht die Angelegenheit nicht besser – im Gegenteil. Der falsche Ton ist so wahrnehmbar wie die Tatsache, dass die Kita-Tante nicht wirklich eine Tante ist. Rückblickend kommentiert die Autor*in: „ich sah das Problem nicht bei mir. Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen“, die nämlich über Betroffene in Worten sprechen, die jene nie wählen würden. Da ist etwas dran. Andererseits stehen wir immer vor dem Dilemma, dass wir die Erfahrung anderer nicht erfahren können. Und Empathie hat auch ihre Grenzen und wenn es die der Sprache sind.
Und noch einmal rückblickend betrachtet und mit dem Wissen, wie die Geschichte weitergeht: Eigentlich versteht sich der Junge selbst nicht, sich und seinen Körper. Denn aus dem Jungen wird zunächst eine schwule und queere, dann eine nichtbinäre und schließlich eine trans*Person. Am Schluss des Romans, der so offenkundig autofiktional angelegt ist, werden 43 Namen aufgelistet, die der Junge im Laufe seines Erwachsenwerdens über sich ergehen lassen muss. Die Liste beginnt mit „Opfer“ und landet bei „Michael“ – dazwischen „Spargeltarzan“, „Schwuchtel“, „Schwanzlutscher“, „Bärli“, „Herr“, „Mike“ – eine Liste der Beschimpfungen, ein Mobbing-Vokabular, Fremdzuschreibungen und nett gemeinte Verniedlichungen.
„Ich wurde bei vielen Namen genannt. Keinen davon habe ich mir selbst gegeben“, lautet der Kommentar. Doch dann folgt noch eine zweite kleinere Liste, die von „Michael“ bis zu „Mae“ reicht. Damit endet die (vorläufige) Namensgeschichte zum ersten Mal mit einem selbstgewählten Namen – Maë. „Ein Name aus einem Namen entnommen, aus einer Sprache genommen, um zu einer zu finden.“ Genau das trifft es: Denn um unser Selbst zu erkennen, brauchen wir die Sprache, in der es wirklich Zuhause ist.
Doch bevor die Psychotherapeutin aufgesucht wird, um mit ihr gemeinsam das richtige Ich zu finden und nach Argumenten, Erinnerungen und Erfahrungen zu suchen, die belegen, „dass dieses ‚Ich‘ zu einer Hormonersatztherapie berechtigt ist“, also bevor das trans*Sein ein Wissen geworden ist, steht in dem Roman noch ein ziemlich schmerzhafter Weg dorthin auf dem Programm.
Dieses Programm heißt beispielsweise Schule, wenn mal wieder das Gehirn leer wie „gestaubsaugt“ ist und es keine Antwort auf die Frage gibt, was bei drei mal zwei herauskommt. Oder wenn später die Klasse eine Skireise unternimmt, die zur Katastrophe wird. Wenn zwei Peiniger aus der Klasse drohen „Wir werden dich in den Arsch ficken.“.
Mit der Pubertät bricht der Ehrgeiz aus, die „Hühnerbrust“ loszuwerden. Also geht es ins Fitness-Studio. Doch das erweist sich als Flopp. Und erst recht das dort geltende „No homo!“. „Die Hymne meiner Fitnesscenter-Zeiten.“ Danach kommt dann doch das Schwulsein und die blau-lila-gefärbten Haare, die ein kahlköpfiger Fußballfan im Bus so kommentiert: „Leute wie du gehören liquidiert.“ Die Großmutter meint lediglich, Männer sollten sich nicht schminken.
Mit den ersten Versuchen im Fummel kommt auch der erste Oralsex mit einem Apfelstrudelbäcker, der nur meint „Halt still.“ „Er findet es toll, ich finde seinen Apfelstrudel besser.“ Auch das ist das Leben auf der Suche nach sich selbst. Anstrengend nur, wenn mensch sich dabei selbst im Weg ist: „Mein Körper ist ein Fluchtkörper, eine flüchtige organische Verbindung, ein Stoff, der keine Räume einnimmt, sondern sich in ihnen verliert, in ihnen verloren ist.“
Doch die Wahrheit sucht sich ihren Weg, der am Schluss über die Hormonpille verläuft, die Maë berauschter sein lässt, als es jede Droge jemals vermochte. Was eine Freundin zu der Bemerkung veranlasst: „Du bist gerade ein selbstbestimmtes Pubertäts-Überraschungsei.“ Ja, so kann sich eine Transition anfühlen. Und damit hat der „Fluchtkörper“ ein Ende: „In mir öffnet sich ein Raum für Leben, Lust und Liebe, ein Raum, der eigenommen werden kann.“
In der Kindheit gab es einen Song von Emilia, der eine große Macht ausübte und von dem es heißt, er „kribbelt unter der Gänsehaut“, nämlich „I’m a big, big girl in a big, big world“. Jahre später bekommt der Song mit der Transition seinen eigentlichen Sinn, denn die nächste Zeile heißt „It’s not a big, big thing if you leave me“. Es ist diejenige, die Maë nun zu dem Mann in ihr spricht, der sie nie gewesen war.
Eine literarische Regel besagt, dass wir am besten über unsere eigenen Erfahrungen schreiben, wenn wir von Lebenserfahrungen erzählen. Das Zauberwort heißt dann authentisch. Hat aber zur Folge, dass wir zu lauter Ich-Sager*innen wurden und die verschriftlichten Lebenserfahrungen Romane nennen, was doch nur Selbstbeschau ist. Autofiktion hat die Fiktion schon seit Langem überrundet. Aber so ist das eben: Wir sagen halt am liebsten und am leichtesten Ich. Aber das macht die Ich-Literatur nicht weniger wertvoll, denn sie bleiben Parabeln, und schon gar, wenn sie sprachlich so präzise wie lakonisch daherkommen, wie jetzt in Maë Schwinghammers Debütroman.
PS: Wir finden es durchaus bedauerlich, dass Maë Schwinghammers Debüt weder für den Deutschen Buchpreis (bei dessen Verleihung es in diesem Jahr wohl einen kleinen Eklat gab, dazu aber an anderer Stelle mehr) noch den Österreichischen Buchpreis nominiert worden ist. [Anm. d. Red.]
Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society
Veranstaltungshinweis: Am 16. November 2024 findet um 19:00 Uhr ein KulturAbend über queere Charaktere in Literatur und Comics im Kulturkaufhaus Dussmann in Kooperation mit dem Haymon Verlag und der Queer Media Society statt. Auf dem Podium begegnen sich Patricia Hempel, Łukasz Majcher und Maë Schwinghammer. Alle Infos hier.
Einen Blick ins Buch gibt es hier.
Maë Schwinghammer: Alles dazwischen, darüber hinaus; August 2024; 232 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN 978-3-7099-8238-9; Haymon Verlag; 22,90 €
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