Wer bin ich? Wo will ich hin?

„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ heißt der Bestseller eines von uns nicht allzu geschätzten Philosophen. In der Tat deutet dieser Titel aber an, wie schwer es sein kann, die Frage nach der eigenen Identität zu beantworten. Dies gilt umso mehr, wenn sich diese Frage auf mehr als einer Ebene stellt. Genau hiervon handelt das vor wenigen Tagen bei Luchterhand erschienene Buch Grenzgänge des kosovarisch-finnischen Autoren Pajtim Statovci.

Bujars „Reise“ beginnt

Hauptcharakter des Buchs ist der albanische Junge beziehungsweise später Mann Bujar, beziehungsweise später in seiner weiblichen Persona Tanja. Bujar wächst in Albanien auf, der Tod des Langzeitdiktators Enver Hoxha ist zu Beginn der Geschichte 1990 noch nicht lange her. Bujar und sein bester Freund Agim beschließen, dem elenden Leben in Albanien zu entfliehen, laufen von zu Hause weg, wollen über das Meer nach Italien übersetzen, um dort ein besseres Leben zu führen.

Später, ab Ende der 1990er-Jahre treibt es Bujar und seine anfangs noch namenlose weibliche Persona nach Rom, Berlin, Madrid, New York und schließlich Helsinki, wo er respektive sie eine Reihe unglücklicher Erfahrungen machen und erkennen muss, dass das Leben auch an weniger elenden Orten nicht einfach ist. Erst die Teilnahme an einer Castingshow in Finnland scheint Tanja ein wenig aufblühen zu lassen.

Ein Herz, zwei Identitäten

In Bujars/Tanjas Brust schlägt zwar nur ein Herz, aber zwei Identitäten. Während der Jugend und der Flucht in Albanien ist ihm dies noch nicht so bewusst und durch die Freundschaft mit Agim tastet er sich langsam an diese Struktur seiner Persönlichkeit heran. Gerade die transsexuelle Identität des Hauptcharakters definiert diesen aber später und führt gleichzeitig auch zu großen Problemen mit der eigenen Identität und besonders dem teils überforderten Umfeld.

Der finnisch-kosovarische Schriftsteller Pajtim Statovci // Foto: © Anniliina Lassila

Pajtim Statovci illustriert diese Problematiken überaus anschaulich und einfühlsam. Es geht um das innere Gefühlsleben des Hauptcharakters und die depressiven Grundtendenzen, die oft mit einer hier zentralen Frage nach Identität einhergehen. Es geht um die Anfeindungen und den Hass, die ein überfordertes Umfeld oft preisgibt, denn ein Mensch ist ja entweder Frau oder Mann, kann ja nicht beides sein. Und es geht darum, nicht zu wissen, wer man ist, wo man hinwill und hingehört, vor allem in einer so feindseligen Welt – auch im ach so verheißungsvollen Westen.

Flucht ohne Heimat

Dazu passt auch die zweite Ebene, die sich ebenfalls intensiv mit der Frage nach Identität und Heimat befasst und uns seit nun schon vielen Jahren begleitet: die Flucht. Bujar und Agim wollen der eigenen, elenden Heimat entkommen und Agims Schicksal bleibt bis kurz vor Schluss auch unklar. Bujar hingegen wird später seine Herkunft verleugnen, an verschiedenen Stellen Italien und die Türkei als seine Heimatländer angeben. Vielleicht prägt ihn auch ein gewisses Schuldgefühl.

Dabei ist es dem Begriff der Heimat doch inhärent, dass sie Identität stiftet. Ob nun Deutsche/r, Italiener/in oder Albaner/in, das Konzept der modernen Gesellschaft basiert auf einem gemeinsamen Verständnis von Kultur und Identität. Diese nationale Identität schafft Statovci in Grenzgänge dadurch, dass er immer wieder Geschichten zu und über Albanien einwebt. Bujars Vater erzählte ihm diese als er noch jung war und parabelgleich finden sie sich unmittelbar oder zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder in der Geschichte Bujars/Tanjas wieder. Auf diese Weise bringt er den Leserinnen und Lesern neben der eigentlichen Geschichte auch dieses für viele noch immer unbekannte Land auf dem Balkan näher – eines von uns noch vielen unbekannten Ländern der Region.

Verschränkte Erzählungen

Autor Pajtim Statovci // Foto: © Anna Kurki

In vier Kapiteln erzählt Statovci von Bujar/Tanja, allerdings nicht ganz linear, sondern ineinander verschränkt. Kapitel 1 und 3 befassen sich mit dem jungen Bujar, seinem Aufwachsen in Albanien und seiner Flucht übers Mittelmeer. Kapitel 2 und 4 hingegen behandeln das spätere Leben Bujars/Tanjas – an jedem der bereits genannten Orte zwar nur für eine kurze Episode, allerdings tragen diese immer eine gewisse Wucht in sich und illustrieren, wie Bujar/Tanja ohne Identität auch in jeder neuen kurzfristigen Heimat nicht heimisch werden kann.

Erst in Finnland soll sich das ein wenig ändern, wenn es – ähnlich wie bei Nic Jordan – auch hier schwierig wird. Dort beginnt der Hauptcharakter eine Beziehung mit der ebenfalls transsexuellen (und gleichnamigen) Tanja, in der sich die ganze Hilflosigkeit von Bujar/Tanja widerspiegelt. Aus diesem Grund ist der Rezensent bis heute nicht ganz sicher, ob es diese (finnische) Tanja und diese Beziehung tatsächlich gab oder ob sie vielleicht gar nur eine manifestierte Illusion des aus Albanien stammenden Hauptcharakters ist, der seiner weiblichen Identität „Tanja“ erst nach dem Kennenlernen diesen Namen gibt.

Grenzgänge: eine grandiose Parabel

Diese Vielzahl an Verschränkungen – Inhalte, Erzählebenen, Persönlichkeiten, Identitäten -unterstreichen aber das große erzählerische Talent Pajtim Statovcis. In Grenzgänge beschreibt er eingängig, fesselnd und packend die Suche nach der eigenen Identität auf so vielen Ebenen. Neben der mehr als interessanten Landeskunde zu Albanien behandelt er die überaus schwierige Situation für Nicht-Heterosexuelle auf dem Balkan aber auch im Westen. Flucht mag als ein Ausweg erschienen, aber ist das oftmals doch nicht so sehr; Tragödien und Enttäuschungen sind oftmals leider vorprogrammiert.

Vor allem aber geht es um Transsexualität, die Probleme, Vorurteile und der überbordende Hass, der Transmenschen leider noch zu oft an zu vielen Orten entgegenschlägt. Allein das macht Grenzgänge schon lesenswert, aber in der Kombination mit den weiteren genannten Aspekten – Landeskunde, Kultur, Identitätskampf, Flucht – ist Pajtim Statovcis erstes ins Deutsche übersetzte Buch eine grandiose Parabel, deren Lektüre bildet, unterhält und einem auch gut die Augen öffnen kann.

HMS

Grenzgänge von Pajtim Statovci

Hinweis: Am 19. März ist Pajtim Statovci um 12:00 Uhr Teil des Programms Common Ground – Literatur aus Südosteuropa im UT Connewitz des Netzwerks TRADUKI im Rahmen der Leipziger Buchmesse. Werft überhaupt mal einen Blick auf das Programm.

Eine Leseprobe findet ihr hier

Pajtim Statovci: Grenzgänge; 1. Auflage, September 2021; Aus dem Finnischen von Stefan Moster; 320 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-630-87641-2; Luchterhand Literaturverlag; 22,00 €; auch als eBook erhältlich

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