Diese Zeilen entstehen am 23. September 2024, dem Tag nach der Landtagswahl in Brandenburg. Vermutlich wird dieser Text zwar erst einige Tage oder gar Wochen später veröffentlicht, da wir bei the little queer review für die kommenden Tage einen einigermaßen straffen Zeitplan haben und in den Inhalten divers bleiben möchten. So ist das eben manchmal im hektischen Alltag.
Dabei ist unsere mediale Gesellschaft heute deutlich schnelllebiger als noch vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Aber es lohnt sich doch, hin und wieder innezuhalten, zu reflektieren und vielleicht auch den einen oder anderen Text zu lesen, der uns einen Einblick in die Gedankenwelt von vor wenigen Jahren gibt. Manche Themen nämlich bleiben erstaunlich aktuell – womit wir wieder bei der Brandenburg- und auch bei den Sachsen- und Thüringen-Wahlen von Anfang September 2024 wären.
Warum?
Mit der AfD und dem BSW nämlich haben zwei populistische Kräfte in allen drei Ländern eine Mehrheit gewonnen oder sind ihr (in Sachsen) zumindest sehr nah. Während das BSW bislang außer „Kein Krieg“ und Putinverklärung quasi keine Inhalte hat, ist bei der AfD mehr als offenkundig, dass sie faschistische und extremistische Inhalte hat. Wenn in einem Land wie Deutschland, in dem wir so viele Freiheiten genießen, jedoch Parteien mit offenkundig autoritären Zielen solch einen Zulauf haben – und das nicht erst seit heute – dann stellt sich die Frage nach dem Warum.
Dieser Frage ging bereits 2020 die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum nach, die im Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. 2021, also vor nun drei Jahren, erschienen ihre Gedanken in der Übersetzung von Jürgen Neubauer unter dem Titel Die Verlockung des Autoritären – Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist bei Siedler.
Persönlich
Es ist ein recht persönliches Buch, das Applebaum hier verfasst hat. Das zeigt sich gleich auf den ersten Seiten, wo sie mit einer Silvesterparty zur Jahrtausendwende einleitet – dem Tag übrigens, an dem ein gewisser Boris Jelzin in Moskau abdankte und ein noch gewisserer Wladimir Putin sein Amt übernahm. Jelzin kennen heute einige gar nicht mehr, Putin und seine Schreckensherrschaft dafür umso mehr Menschen.
Nicht mehr kennen – so geht es auch Applebaum und ihrem Mann, dem früheren und heute erneuten Außenminister Polens, Radek Sikorski. Von den Gästen, die damals auf der Party waren, seien einige heute nicht mehr in ihrem Bekanntenkreis. Zu sehr hätten sich die Lebensrealitäten auseinanderentwickelt und das stehe parallel zu einer Polarisierung auch mancher Gesellschaft. Wenig überraschend endet das Buch nach sechs Kapiteln auch mit einer Party im Sommer 2019, also knapp 20 Jahre nach dem Einstieg in Applebaums Betrachtungen, mit vielen neuen Gästen und kurz vor einer weltumspannenden Katastrophe namens Pandemie.
Eingekehrt
In den vier Kapiteln dazwischen analysiert sie, wie nach den zehn Jahren des liberalen Aufschwungs nach dem Ende des Kalten Kriegs der Autoritarismus seinen Weg in die Demokratien der Welt fand. Polen und Ungarn gingen oder gehen teils noch immer unter den Kaczyńskis und Orbáns dieser Welt den Weg in die „illiberale Demokratie“, Großbritannien hat die wohl erfolgreichste Freihandelszone der Welt verlassen, und Donald Trump war vermutlich noch Präsident, als Applebaum ihr Manuskript entwarf.
Interessant übrigens, dass Kaczyński und Orbán in ihren jeweils ersten Amtszeiten im Rückblick noch verhältnismäßig moderat auftraten und erst nachdem sie aus der Opposition wieder(!) in die Regierung gewählt wurden, ihre autoritären Vorstellungen so richtig durchzusetzen begannen – ein Punkt, den Applebaum gar nicht herausstellt und mir erst beim Abfassen dieser Zeilen kommt. Aber sollte Donald Trump in einem Monat tatsächlich erneut gewählt werden, lohnt sich wohl ein Blick auf die Erfahrungen aus Polen und Ungarn…
Nostalgie
Aber zurück zu Applebaum und ihrem Essay. Kaczyński und Orbán, Trump und Brexit, dazwischen immer wieder eine Prise Putin, Berlusconi, Le Pen oder andere Populisten, vor allem aus Spanien. Sie bedienen sich alle ähnlicher Praktiken und Mittel, um ihre Herrschaft zu erlangen. Das sind die Echokammern der so genannten sozialen Medien, es ist der nostalgische Verweis auf die vermeintlich „gute alte Zeit“ und es ist die Erschaffung eines gemeinsamen Feindbilds – oft mittels plumper und dennoch unhinterfragter Lügen.
Das sind „die anderen“, „die Ausländer/Migranten“ oder „böse Mächte“, die „uns“ etwas Böses wollen. Deretwegen wir nicht mehr in Frieden leben könnten. Die uns unsere Souveränität nähmen. Die, für die wir, die hart arbeitende Mittelschicht, bezahlen müssten. Die Populisten versprechen uns einen Ausweg und halten einfache Lösungen bereit, erzählen uns jedoch nicht, welche negativen Auswirkungen diese auch hätten. Die AfD beispielsweise – die bei Applebaum nicht auftaucht – würde mit ihren Steuerplänen „die kleinen Leute“ und die Mittelschicht stärker belasten als „die da oben“. Worüber ihre Funktionäre natürlich nicht sprechen…
Abschiede
Mensch sieht, wie verlockend es ist, bei diesem Thema immer wieder in die Tagespolitik abzuschweifen. Es gibt ja auch genügend Anlass dazu. Applebaum bleibt aber relativ fokussiert, handelt in ihrem Buch Stück für Stück einzelne Themen und Fallbeispiele der letzten 20 Jahre ab. Und doch nimmt auch sie immer wieder eine persönliche Perspektive ein, erläutert, warum manche Menschen, mit denen sie vor 20 Jahren noch positiv in Kontakt stand, heute nicht mehr in ihrem Umfeld sind und was die Veränderung persönlicher Ideale damit zu tun hat.
Der US-Republikaner John McCain beispielsweise habe noch bei der Vorstellung ihres Buchs Gulag „eine wunderbare Einführung gehalten“, jedoch kein Wort mehr mit ihr gesprochen, nachdem sie einen Artikel veröffentlichte, in dem sie darlegte, warum sie nicht (mehr) für ihn stimmen könne. Und doch sollte McCain nur der Vorbote für die Radikalisierung der seiner Republikanischen Partei sein und wird heute als verhältnismäßig moderat gesehen bis verklärt.
Messerscharf
Vor solchen historischen Fakten verknüpft mit den schlauen Erfahrungen einer messerscharf analysierenden Publizistin, die sich selbst im liberalen gesellschaftlichen Spektrum verorte, strotzt Die Verlockung des Autoritären. Das ist gut, zeigt sie doch damit auf, wie sich die vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft auseinanderentwickelt hat, aber auch auf individueller Ebene, wie die Propaganda und die restaurative Nostalgie der Populisten wirken.
Eines allerdings fehlt trotz aller Informationsdichte in diesem überaus lesenswerten Buch: die Antwort darauf, was diese titelgebende Verlockung des Autoritären nun sei. Ja, die Methoden und Pfade in den Autoritarismus legt Anne Applebaum äußerst anschaulich dar und zeigt, wie einfach doch kluge Menschen dieser Verlockung erliegen können. Doch worin besteht sie? Es hat vermutlich etwas mit Macht zu tun oder vielmehr mit dem Gefühl, sich einer drohenden Ohnmacht zu erwehren.
Verlockung
Vermutlich ist das etwas, was auch die Wähler*innen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen in die Hände von AfD und BSW getrieben hat: das Gefühl, dass diejenigen, die Macht haben, diese nicht klug nutzen. Ob es Waffenlieferungen an die Ukraine sind oder die Aufnahme derer, die um Schutz ersuchen, alles wird in „deren“ Augen vermutlich als wichtiger erachtet als „ihre“ Zukunft. Hier brauche es wohl einen „starken Mann“, der die Dinge wieder in „ihrem“ Sinne regele.
Nur ob das auch so käme, das ist alles andere als klar. Ein Blick zurück auf die beiden Erfahrungen, die wir in Deutschland mit Autoritarismus gemacht haben – das NS-Terrorregime und die SED-Diktatur in der DDR – sollte eigentlich die Antwort liefern. Aber da ist sie dann wohl wieder, diese so verführerische und dennoch nicht definierbare Verlockung…
HMS
PS: Dieser Tage erscheint Applebaums neues Buch Die Achse der Autokraten – erneut bei Siedler und erneut von Jürgen Neubauer übersetzt. Die Verleihung des Friedenspreises findet am 20. Oktober in der Frankfurter Paulskirche, dem Symbolbild der liberalen Demokratie, statt.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären – Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist; Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer; ISBN: 978-3-570-55459-3; Pantheon Verlag; 18,00 €
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