„Stilkritik an Tagebüchern, gab es so was schon mal?“ Das fragt Felix Lindner in seinem hochgradig erhellenden Nachwort des von ihm herausgegebenen Bandes Mit Thomas Mann durchs Jahr, der kürzlich in der Fischer TaschenBibliothek erschienen ist. Anlass ist die Auseinandersetzung mit den Tagebüchern Thomas Manns, die von 1977 bis 1995 peu a peu veröffentlicht wurden. Und eben nicht Felix Krull, die Buddenbrooks und schon gar nicht der Zauberberg oder Tod in Venedig sind.
„>>Geschäftige Untätigkeit.<<“
Stattdessen geht es um Unterhosen, Rektal-Entzüdungen, „Darmwinde“, Halsweh, „Thee“, Champagner, Pudel, körperliche Reize und Arbeits(un)willen. Manch eine*r nennt diese Tagebücher Schund, Fritz Raddatz hingegen schrieb in einem Essay, sie seien „ein Lesevergnügen, nach dem man süchtig werden kann“, wie Lindner uns wissen lässt.
Von 2022 bis 2023 betrieb Felix Lindner den Twitter-Account Thomas Mann Daily, von dem er nun sicherlich auch in dem vorliegenden Band zehrt. Wie überhaupt von seiner Arbeit zur Literatur– und Wissenschaftsgeschichte der Kreativität. Zusätzlich, und hier wird es mit Blick auf das geschmeidige Buch interessant, befasst er sich mit Körperlichkeit, Diätetik und dem Alltag des literarischen Schreibens, wie es der S. Fischer Verlag uns in der Autoreninformation wissen lässt.
„>>Nichts ist zu dumm.<<“
So geht es also sehr körperlich, manches Mal empfindsam, hin und wieder erstaunlich erschüttert, selten erotisch, häufiger ermattet durch das Jahr. Dabei mag sich bei durch das verwandte „Kommando-Vokabular“ (Raddatz) bei den Leser*innen der Gedanke einstellen, als gehe es hier nicht um eine Person, sondern als seien die Tagebücher „nur ein Protokoll über ein Objekt und dessen Regungen“, wie Lindner schreibt.
Dem ist unbedingt zuzustimmen. Es geht in den Tagebüchern um den Schriftsteller, den Arbeiter, die Figur Thomas Mann, nicht den Menschen. Was die Tagebücher wohl umso spannender machen dürfte (der Autor dieser Zeilen kennt sie nur in Bruchstücken). Insofern darf dieser wunderbare kleine Band, der dazu als immerwährender Kalender dienen kann, als ein fabelhafter Einstieg in die Mann’sche Arbeits-Lebens-Welt gelten.
„>>Leckere Brötchen und Schnitten.<<“
Zudem ein feiner Einstieg in das Thomas Mann-Jahr: 2025 jährt sich dessen Geburtstag (6. Juni 1875) zum 150. Mal und der Todestag (12. August 1955) zum 70. Mal. Ein lustiger dazu. Nun sollen wir nicht über die körperlichen und geistigen Leiden von anderen Menschen lachen. Dann wiederum liest sich manch ein Eintrag schlicht so abseitig, dass mensch kaum anders kann, als sich zu amüsieren.
„>>Akklamation beim Aufbruch nach dem Hühnchen.<<“, „>>Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Unterhosen.<<“, „>>[F]ast unkorrigible Verstopfung. – Schönes Wetter.<<“, „>>Morgens gleich wieder Einsetzen des Mißbefindens.<<“ – das sind teils keine schönen Nachrichten und doch zeigen sie uns nicht nur, dass wir nicht allein mit unseren Wehwehchen sind, sondern sorgen dabei für lakonische Heiterkeit.
„>>Schlechte Arbeitsstimmung im Ganzen […]<<“
An anderer Stelle der täglichen Zitate dürften wir uns erst recht wiedererkennen. Wenn es etwa um die Unlust auf Gesellschaft, das Unausgeruhtsein nach schlechtem Schlaf oder Ruhestörungen geht. Überhaupt, auch darauf geht Lindner in seinem Nachwort ein, räumen die in Mit Thomas Mann durch das Jahr aufgeführten Zitate mit dem Mythos des immer streng nach immer gleicher Tageseinteilung arbeitenden Autoren auf.
Viele werden es wissen: Immer wieder wurde und wird kolportiert, dass Mann von neun bis zwölf Uhr morgens/vormittags geschrieben habe. Dass dem nicht so ist, wird spätestens klar, wenn wir lesen, dass er bis zehn geschlafen oder ganze Vormittage im Bett zugebracht habe. Zwar habe es eine Tageseinteilung gegeben, so Lindner, dies aber eher „als Idee und Orientierung, nicht als unverbrüchliches Gesetz.“ Zudem ließe sich diese Geschichte über die Arbeitsroutine gut erzählen und sie bestätigt letztlich Mann-Fans wie Hater.
„>>Ungezählte Taschentücher verbraucht.<<“
Selbstredend kommen die in Mit Thomas Mann durchs Jahr zitierten Tagebucheinträge nicht ohne Homophilie, ohne Bemerkungen zu Homosexualität aus: „>>Gespräche über mann-männliche Erotik, über denen es sehr spät wurde.<<“ oder: „>>Selbstverständlich fielen meine Augen auf einen Adonis in der Badehose […].<<“ Hier merken wir auch, ähnlich wie es im sehr sehenswerten Film Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann thematisiert wird, dass Mann zeitlebens die Männer mochte. Das erste Zitat ist aus dem Juli 1920, das zweite ist datiert auf den 27. August 1950.
Zu guter Letzt begegnen wir immer wieder Thomas Manns Umgang mit Hunden, was sich teils irritierend liest. Dazu an anderer Stelle mehr, hat doch die Schriftstellerin Bettina Balàka in ihrer Kulturgeschichte der Natur Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen ein paar Gedanken zum Missverständnis zwischen Mann und Hund notiert.
„>>Nur fertig werden.<<“
Abgerundet wird dieser zugängliche „Realitätsabgleich“, der auch hervorragend als Eigen-Geschenk funktionieren dürfte, durch zahlreiche Anmerkungen zu einzelnen Einträgen, das erwähnte Nachwort, das wiederum um eine Menge Endnoten ergänzt wird. Apropos Ende: Der letzte Tagebucheintrag Manns vom 29. Juli 1955: „>>Verdauungssorgen und Plagen.<<“
Damit auf ein gutes 2025, ein starkes Thomas Mann-Jahr und die große lehrreiche Freude mit diesem herrlichen Buch.
AS
PS: 20.7.1934 – „>>Habe wieder begonnen, morgens nackt ein wenig zu turnen.<<“ Hier lässt uns Felix Lindner in seinen Anmerkungen wissen, dass dieses Nacktturnen auf „das Hygieneprogramm des dänischen Sportlers J.P. Müller u. Sein 1904 erstmals erschienenes und außerordentlich populäres Buch Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit.“ zurückgeht. Ebenso, dass diese Übungen auch Franz Kafka praktizierte. Ohne die Anmerkung gelesen zu haben, musste ich beim Lesen des Eintrags an Joel Basman in der Kafka-Miniserie Daniel Kehlmanns denken, in der wir ihn in Unterhose- und -hemd „Müllern“ sehen.
PPS: Wir werden nach und nach Bücher von und über Thomas Mann besprechen. Demnächst gibt es unsere Gedanken zu Oliver Fischers <<Man kann die Liebe nicht stärker erleben>> Thomas Mann und Paul Ehrenberg, das im November 2024 im Rowohlt Verlag erschienen ist.
PPPS: Übrigens haben wir auch ein Jules Verne-Jubiläum: Der Todestag des politisch–fantastischen Autoren jährt sich am 24. März zum 120. Mal.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Thomas Mann, Felix Lindner (Hg.): Mit Thomas Mann durch das Jahr; November 2024; 432 Seiten; Taschenbuch; ISBN: 978-3-596-52371-9; Fischer Taschenbuch; 16,00 €
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