Wissenschaftsfreiheit ≠ Meinungsfreiheit ≈ Ignoranz

„Diese linksradikalen Transaktivist*innen verbieten all den vernünftigen, normalen, gutbürgerlichen Menschen den Mund – und das freie Denken!“ So jedenfalls klingt es, wenn wir auf einen Großteil der Berichterstattung zum verschobenen Vortrag der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht schauen. Eine enttäuschte Polemik.

[Am Ende des Textes findet ihr einen Veranstaltungshinweis]

In der letzten Woche gab es diverses über den von der Humboldt-Universtität zu Berlin abgesagten respektive verschobenen Vortrag „Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht zu lesen. Dieser sollte im Rahmen der Langen der Wissenschaften stattfinden und er wurde gestrichen, nachdem der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen es wagte, auf die trans*feindlichen und wissenschaftlich kaum gestützten Inhalte hinzuweisen und Protest anzukündigen. How dare they?!

So jedenfalls dachten wohl viele Journalist*innen im deutschsprachigen Raum, die kaum müde wurden zu betonen, wie hier die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt würde. Den Vorwurf machten sie dabei zumeist nicht der Universität, die den Vortrag absagte und dies in einer Form „framten“, die die Schuld und Verantwortung allein auf die Aktivist*innen schob. Dass dies einer Universität unwürdig ist und ebenso für Führungsschwäche steht, wurde hingegen kaum thematisiert.

Hier soll aber erstmal kurz auf die Form der Berichterstattung geschaut werden, die vor Transphobie und -feindlichkeit, Ignoranz, Arroganz und teils Boshaftigkeit nur so strotzt (Hallo, NZZ, erneut…). Bei der Neuen Zürcher Zeitung mag es kaum überraschen: Diese setzt Gleichberechtigung queerer Menschen scheinbar ohnehin mit Unfreiheit aller „Normalen“ gleich. Geschenkt. 

Erschreckender sind da schon Einlassungen sonst durchaus sortierter und bedachter Medien, die sich beinahe auf BILD-Niveau einer Argumentation à la „linke Transradikale canceln die Wissenschaft“ begeben. So war ich erschüttert über den t-online-Tagesanbruch vom 7. Juli, in der Florian Harms genau dieses Narrativ bedient, unterfüttert von einem tendenziös geführten Interview. Das bei genauem Lesen – das wir dem Chefredakteur im Gegensatz zu den ganzen Headline-Kreischer*innen einfach mal unterstellen wollen – wenig Radikales und viel eher Vernünftiges hat.

Was ist denn an dem Wunsch einer Debatte mit gegensätzlichen Stimmen verkehrt? Das fordert ihr pikierten, ja empörten Journalist*innen doch auch. Wenn sich aber eine Gruppe hinstellt und den Gedanken in den Raum stellt, dass Wissenschaftler*innen, die sich tatsächlich mit trans*-Themen befassen, neben Vollbrecht auftauchen sollten, ist das Cancel Culture? Sacht mal…

Hier werden nicht nur Wissenschafts- und Meinungsfreiheit durcheinander gebracht (im Übrigen auch wieder unterstützt durch die Erzählung der Humboldt-Universität und ebenso den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt) sondern auch Biologie und Biologismus. Ebenso lässt Vollbrecht Erkenntnisse der Neurobiologie vollkommen außen vor, ihre Erkenntnisse sind Meinungen und sie folgen einer Agenda; sie sind Polemik und teilen Menschen nicht zuletzt in Klassen ein: hier das gute, erstklassige binäre System, dort der nach unten abzustufende Rest. 

All dies wird aber zumeist außen vorgelassen; cis-(hetero)-Personen beurteilen einen Vorgang und die Menschen, die direkt betroffen sind, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen. Das wirklich entsetzlich Krasse daran ist vor allem: Sie nutzen dies um mal wieder die „F*cking-Woke-Linke-Szene“-Keule rauszuholen, gebrauchen dafür unmöglichste und unhaltbare (teils auch kaum aushaltbare) Vergleiche und klopfen sich als Vertreter*innen der Meinungsfreiheit auf die Schulter. 

Schätzeleins: Wenn ihr eines seid, dann das nicht. Ihr sagt, die Meinung derer, die eine breite Debatte fordern, sei Cancel Culture. Ihr meint, eine Frau, die nicht biologisch sondern biologistisch argumentiert, solle gecancelt werden – was an sich schon Blödsinn ist, denn nicht nur wird der Vortrag nachgeholt, er ist auch auf YouTube zu sehen, Vollbrecht hat mit anderen wissenschaftlich zweifelhaften und Anti-Trans*-Agenda geleiteten Personen in der Welt publiziert und konnte ihren Vortrag in der reichweiten- und auflagenstarken Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichen.

Also bitte… Ihre Meinungen zu Geschlecht sind bekannt. Die Aktivist*innen agieren nicht blind, reagieren nicht unwissend auf einen beißenden Vortragstitel. Ihr hingegen tut dies. Vor allem merken einige von euch scheinbar nicht einmal, dass ihr hier einer menschenfeindlichen Agenda helft – siehe die Klassenzuordnung. 

Ihr tragt diesen Kulturkampf auf den Schultern systematisch unterdrückter und marginalisierter Menschen aus. Es geht nicht um Links und Mitte und Rechts… Es geht jenen, die hier kreischen „Cancel Culture! Wissennschaftsfreiheit! Zensur! Aushaltenmüssen!“ um Meinungshoheit und den Erhalt des Status quo. Queere Menschen, trans*Personen mussten und müssen reichlich aushalten, ihr nennt sie und uns nach wie vor eine schrille Minderheit. Wer will denn hier nichts aushalten? Hm?

Florian Harms und Kolleg*innen, auch dem Team vom DLF Podcast Der Tag oder auch Stefan Winterbauer von Meedia, der schon vor Wochen „den angeblich transphoben Gastbeitrag [der Welt, Anm. d. Red.] (der ja gar nicht transphob war)“ meinte einordnen zu müssen und sich damit als oberschlauer Totalausfall zeigte und ebenso manch anderen mag ich gern ehrliches Nichtwissen anrechnen. Wenn dies aber um eine solide Portion Ignoranz ergänzt wird und zu undifferenzierter, aber lauter und rechthaberischer Argumentation wird, wird’s schwierig, wird’s giftig, wird’s verantwortungslos.

All dies zeigt nicht nur, wie wichtig die Initiative #TransMedienWatch ist, die wir gern unterstützen, sie zeigt auch, dass nicht jede Person, die Debatte fordert, diese auch wünscht. Mensch stelle sich vor, sie mag das eigene Weltbild hinterfragen. Ugh!

Apropos „hinterfragen“: Fragt euch doch mal dies und beantwortet es ehrlich und nicht euer zuletzt gewählten Argumentationslinie entsprechend: Ginge es in identischem Setting unter gleichen Maßgaben um den Auftritt eines Mediziners, der behauptet, die Wissenschaft zeige, dass Corona-Impfungen eher schaden und töten würden – würdet ihr dies ebenso als Wissenschaftsfreiheit verteidigen und euch hinter die Person, die Universität und gegen die Gegenstimmen stellen? 

AS

PS: Im Übrigen verfasste Camilla Kohrs am 27. Juni 2022 einen Tagesanbruch, in dem es um die Rechte queerer Menschen und das gleichberechtigte Leben aller Menschen ging. Dies als Reaktion auf den Anschlag des „London Pub“ in Oslo. Wieso wird nicht auch in Bezug auf den Vortrag differenziert geschaut?

PPS: Ich hatte überlegt, aber ich klemme es mir hier, jetzt meine sexuelle und geschlechtliche Identität auszuführen. Wer von den Angesprochenen diesen Beitrag als „sicherlich von einer eingewandertern linksradikalen Transchschwuchtel mit Locken und lackierten Fingernägeln“ einordnen will, kann dies gern tun.

Veranstaltungshinweis vom Bundesverband Trans* und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld:

Liebe Interessierte,

Wir müssen sprechen – auch über Geschlecht aus Sicht der Biologie. Das wird nicht zuletzt auch an den aktuellen Debatten um die jüngsten Vorkommnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin deutlich. Denn: In der Biologie ist schon länger klar, dass es nicht nur zwei Ausprägungsformen des Geschlechts gibt, sondern dass sich Genitalien individuell unterschiedlich entwickeln. Doch in der allgemeinen Bevölkerung kommt diese Sicht erst verzögert an.

Heinz-Jürgen Voß hält daher am Montag, 11.7., um 19 Uhr einen Online-Vortrag mit dem Titel „Nur 2 Geschlechter? – Zur Dekonstruktion des Geschlechts in der Biologie“

In dem Vortrag erläutert Dr. Voß biologische Geschlechtsentwicklung und zeigt die pädagogischen Zugänge, die die biologischen Vorgänge korrekt darstellen und wie sie nach und nach in der Schule ankommen. Zuschauende sind herzlich eingeladen, dabei zu sein: Der Bundesverband Trans* und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld präsentieren gemeinsam den Online-Vortrag von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß.

Zuschauer*innen haben die Möglichkeit, während des Vortrags Fragen über die Chatfunktion zu stellen. Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß beantwortet Fragen im Anschluss an seinen Kurzvortrag.

Montag, 11. Juli 2022 von 19:00 – 20:30 Uhr; die Veranstaltung wird über ZOOMWebinar durchgeführt. Eine Registrierung ist nicht erforderlich: https://us02web.zoom.us/j/86943734637

Biographisches zu Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß: Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß: Jg. 1979, Studium der Diplom-Biologie in Dresden und Leipzig. Promotion 2010 zur gesellschaftlichen Herstellung biologischen Geschlechts in Bremen. Seit Mai 2014 Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg und seit 2022 Prorektor*in für Studium und Lehre.

Informationen und Kontakt: www.heinzjuergenvoss.de

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