Wo sind eigentlich all die ungarischen Restaurants geblieben?

Thomas Sparr schrieb mit „Hotel Budapest, Berlin“ keine Geschichte der ungarischen Emigration, wie er erklärt, aber eigentlich doch. Auf jeden Fall macht der Autor eine spannende kulturelle Gewinn- und Verlustrechnung auf, in der Namen wie Peter Szondi, Ivan Nagel, Arnold Hauser, Peter Lorre, László Moholy-Nagy, Béla Balász, György Ligeti, Imre Kertész und noch viele mehr eine Rolle spielen – mit Berlin als klarem Gewinner.

Von Nora Eckert

Das Buch ist bereits 2021 im Berenberg Verlag erschienen und nach der ökonomischen Logik des Buchmarkts müsste es längst weggespült worden sein von der soundsovielten Neuerscheinungswelle. Aber es lag kürzlich noch auf einem Büchertisch. Ich hatte darin geblättert, womit klar wurde, genau das will ich lesen und ebenso schnell war klar, meine Begeisterung nicht für mich behalten zu wollen. Auch spielte mein unverbesserlicher Lokalpatriotismus mit hinein, der mir Menschen von vornherein sympathisch erscheinen lässt, für die Berlin zum Rettungsring und Impulsgeber wurde. Denn ich erkenne darin unweigerlich mein eigenes Verhältnis zur Stadt. Und mit einer Art Flucht hatte ja auch meine Ankunft im damaligen West-Berlin zu tun, auch wenn in meinem Fall keine existentielle Bedrohung bestand, wie sie Emigrant*innen erleben. Nein, so vermessen will ich nicht sein.

Es waren vor allem einige Namen wie die schon erwähnten Szondi, Nagel, Hauser usw., die mich magisch anzogen und mir ins Bewusstsein riefen, dass die Zeit wie ein Schwarzes Loch alles zu verschlingen droht. Aber gegen das Vergessen hilft das Erinnern und das Buch ist randvoll mit lauter wertvollen Erinnerungen, elegant und beredt zu Papier gebracht und damit unbedingt lesenswert. 

Nun zur Sache: Es ist also keine Geschichte der ungarischen Emigration Richtung Deutschland respektive Berlin, wie uns der Autor erklärt, aber Thomas Sparr weiß mitzuteilen, dass Budapest schon immer eine Affinität zu Berlin verspürte und keineswegs zu Wien, wie oft angenommen wird. Warum das so ist, darüber mutmaßte der wiederum in Ungarn verliebte Schriftsteller Franz Fühmann in seinem Tagebuch: Man habe sich „zum kritischen Geist dieser Stadt [gemeint ist Berlin, N.E.], ihrer künstlerischen Gnadenlosigkeit, ihrem Qualitätsprinzip, ihrem Maßstabsetzen“ hingezogen gefühlt – zumindest soweit es das Deutschland vor 1933 und nach 1945 betrifft.

Wenn Sparr Geschichten von ungarischen Emigrant*innen erzählt, entstehen daraus immer auch Einblicke in die europäische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts mit Erzählungen von fluktuierenden Ideen, kulturellen Wechselwirkungen, auch konkurrierenden und rivalisierenden Beziehungen und geistig höchst produktiven osmotischen Verhältnissen. Philosophie, Literaturwissenschaft, die Literatur selbst und auch die Musik sind die Felder, aus denen Sparr seine biografischen Erzählungen herausfiltert und in die die Politik sich schicksalhaft einmischt.

Emigration wurde zu einem Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts mit all seinen politischen Verwerfungen und Kämpfen, ausgelöst durch Diktaturen, durch den Nationalsozialismus, den Stalinismus, durch Krieg, Rassismus, Antisemitismus, religiösen Fanatismus – und was hier noch an „Ismen“ verheerend überall auf der Welt seither zu Buche schlägt. Denn Emigration, Flucht und Vertreibung sind im 21. Jahrhundert nicht weniger geworden. Aus der Geschichte zu lernen, bleibt so gesehen ein frommer Wunsch.

Der Begriff „Multikulti“ wird heute gerne belächelt und als Illusion verworfen, aber die Geschichten, die Sparr in seinem Buch versammelt, sind Belege für die Wirklichkeit einer Multikulturalität der sogenannten Geisteswelt. Sie ist ein riesiger Raum für Austausch und war das im Grunde schon immer. Nichts macht das deutlicher als beispielsweise die Lebensgeschichten, die wir im Buch lesen. Eine andere Frage freilich ist, was davon im öffentlichen Bewusstsein vorhanden ist. Sparrs Skepsis trifft wohl den Kern des Problems intellektueller Debatten, an deren Türen für gewöhnlich das Schild „Geschlossene Gesellschaft“ hängt. 

Aber Spuren bleiben doch – Beispiel Peter Szondi. In Budapest geboren, mit der Familie in die Schweiz emigriert, studierte in Zürich und Paris und lehrte an der Freien Universität Berlin Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 1971 nahm er sich das Leben. Sein Ruf als Universitätslehrer war legendär. An seiner Dissertation „Theorie des modernen Dramas“ kommt man auch heute nicht vorbei. Szondi galt als Virtuose des Close Readings und hielt nichts davon, über Texte zu phantasieren wie Liszt über Bachsche Themen, wie er sich einmal ausdrückte. Seine Dramentheorie zeigt seine Prägnanz-Begabung, nämlich komplexe Inhalte auf den Punkt zu bringen und trotzdem unter Ausschaltung episodischen Beiwerks die Kompliziertheit geistiger Stoffe zu bewahren. Konzentration auf das Wesentliche – so ließe sich sein wissenschaftliches Arbeiten charakterisieren. Mich fasziniert das jedes Mal aufs Neue, wenn ich in dem schmalen gelben Bändchen der Edition Suhrkamp nachschlage.

Ein anderes Beispiel: Ivan Nagel, wie Szondi jüdischer Abstammung, der aus Ungarn flüchtete, als der eine Totalitarismus durch den anderen ersetzt wurde. Flieht 1948 ebenfalls in die Schweiz, studiert bei Theodor W. Adorno in Frankfurt. Wird dort wegen § 175 angeklagt und hatte Glück, nicht zuletzt durch prominente Fürsprecher. Gleichwohl bekannte er sich zu seinem Schwulsein. Das Theater sollte zu seinem Wirkungsort werden, gleich ob er über das Theater schrieb (etwa über Mozarts Opern in „Autonomie und Gnade“ oder als Journalist) oder es als Intendant leitete (Hamburg und Stuttgart). Wer in der Berliner Kultur unterwegs war, konnte ihm ziemlich oft über den Weg laufen. Gerhard Stadelmaier schrieb 2012 in seinem Nachruf für die FAZ: „Ivan Nagel, der Mann im berühmten grauen Pullover und mit der noch berühmteren weithin strahlenden Eierkopf-Glatze, war in den Auditorien der Hauptstadttheater ein ziemlich einsamer Leuchtturm.“ Gut, ein paar mehr gab es schon.

Zu erwähnen wäre auch Arnold Hauser, der mit seiner „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur“ von 1953 ein neues Kapitel in der Kunstbetrachtung aufschlug. Mir hat sie wie auch seine „Soziologie der Kunst“ wesentlich auf die Sprünge geholfen, die Rolle der Künste in und für die Gesellschaft zu verstehen. Es gäbe noch so viele andere Namen hervorzuheben, wie etwa den Komponisten György Ligeti, dessen Musik nahezu komplett, konserviert auf kleinen runden Scheiben bei mir im Regal steht, so wichtig ist sie mir. Auffällig viel Raum nimmt Georg Lukács in Sparrs Betrachtungen ein. Sein Einfluss ist durch eine fulminante Romantheorie und noch vieles mehr kaum zu überschätzen, aber am Ende ist davon nur wenig zu retten. Was bleibt ist wohl eher das, was von ihm wegführte – etwa von einer unhaltbaren Realismus-Doktrin. Hinzu kommt, was Szondi auffiel: Lukács habe seinen Grundsatz, „das eigentlich Soziale in der Kunst sei die Form, ein Leben lang vergessen“. Szondi dagegen tat das nicht, in dem er in den sich verändernden ästhetischen Formen die jeweils auslösenden historischen Umstände entziffert.

Und mit Imre Kertész setze ich hier endlich einen Schlusspunkt: Auf die Frage „Warum Berlin?“ schrieb er in dem Roman Ich – ein anderer: „Es ist etwas anderes, zu Hause heimatlos zu sein als in der Fremde, wo wir in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden können.“ Und als er wieder in Budapest ist, kommt ihm dieses in den Sinn: „Am letzten Tag auf dem Kurfürstendamm begriff ich, dass Berlin für mich das Leben und Budapest das Exil ist.“

PS: Thomas Sparr schreibt „Westberlin“ ohne Bindestrich. Das tat man für gewöhnlich sonst nur in der DDR, weil sie aus zwei Stadthälften zwei Städte ideologisch formte, nämlich Berlin, die Hauptstadt der DDR, und Westberlin, die „selbständige politische Einheit“. „West-Berlin“ trifft die Sache, auch mit Blick auf die Wende 1989, historisch jedenfalls besser, wie ich meine – eine Stadt ist eine Stadt.

PPS: An einer Stelle ist die Rede von einem „Passagierabkommen“, richtig muss es wohl heißen „Passierscheinabkommen“, mit dem nach dem Mauerbau ab 1963 der Reiseverkehr vor allem von West nach Ost geregelt wurde. Oder ist im Buch etwas anderes gemeint?

PPPS: Bei unseren gelegentlichen Besuchen in Ost-Berlin (ab 1974) war das Haus Budapest bei uns eine beliebte Anlaufstation, so man denn die Chance hatte, dort platziert zu werden. Die Chance stieg zuverlässig bei einem Obolus in West-Währung. Die Speisekarte offerierte ungarische Gerichte, aber bei dem, was auf dem Teller lag oder schwamm, hatten wir mitunter unsere Zweifel, ob das wirklich ungarisch war. Ansonsten hat Thomas Sparr recht, was das Verschwinden des Ungarischen auf dem lukullischen Sektor betrifft. Bei all der Schäumchen-Liebhaberei der aktuellen Cuisine dürfte Ungarisches wohl zu deftig sein.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverband Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Thomas Sparr: Hotel Budapest, Berlin. Von Ungarn in Deutschland; Oktober 2021; 208 Seiten, mit Abbildungen; Halbleinen, fadengeheftet; ISBN 978-3-946334-80-4; Berenberg Verlag; 24,00 €

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