„Systemrelevant“ – bevor es zu „alternativlos“ und „Wir schaffen das“ ging, war „systemrelevant“ die erste große Aufregervokabel der Merkeljahre. Große Banken durften nicht pleitegehen, denn wenn doch, dann stand die Stabilität des ganzen Finanzsystems auf dem Spiel. Die „Bankenlobby“ hat sich Ende der 2000er-Jahre nicht viele Freunde gemacht.
Politik lässt sich allzu oft von den Interessen Einzelner treiben. Das war bei Cum-Ex so wie schon bei der unzureichenden Regulierung der Finanzmärkte vor der Finanzkrise. Und das war bereits vor etwa 150 Jahren so, als das Deutsche Reich widerwillig in das Abenteuer des Kolonialismus gedrängt wurde.
Erfolgreiche Lobbyarbeit
Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. standen dem zuerst ablehnend gegenüber, aber ein paar findige Kaufleute aus Hamburg und Bremen waren emsig dabei, Fakten zu schaffen und das Deutsche Reich mit in Haftung zu nehmen. Sie zwangen die Reichsspitze in eine Rolle, die sie ursprünglich nicht für Deutschland vorsah.
Wer diese (fast ausschließlich) Männer waren, welche Motive sie verfolgten und wie sie es schafften, die Reichsspitze für ihre Interessen einzuspannen und zur Schutzmacht zu machen, behandelt Dietmar Pieper in seinem Buch Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche – Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben. Das Buch erschien bereits im Februar 2023 bei Piper, ist bislang aber nur wenig im öffentlichen Diskurs aufgetaucht.
Chronik des Glücksrittertums
In zehn Kapiteln zuzüglich Einleitung, Ausblick und editorischer Notiz widmet sich Pieper diesen Glücksrittern. Ausgehend vom Plantagenbesitzer Heinrich Carl Schimmelmann, der seiner Zeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weit voraus war, behandelt Pieper eine Reihe von Händlern, die in verschiedenen Weltregionen ihre Interessen hatten und teils noch heute wohlklingende Namen haben.
Von den heutigen Ländern Kamerun, Papua-Neuguinea, Tansania, Namibia und en passant auch Togo widmet er jedem deutschen Schutzgebiet ein eigenes Kapitel, in dem er aufarbeitet, wie die Deutschen ihre Eroberungsfeldzüge vor Ort gestalteten, wie die Kaufleute in Bremen und – vornehmlich – Hamburg davon profitierten, wie das Deutsche Reich zunehmend in die Rolle der Eroberer gedrängt wurde und wie vor allem die Bevölkerungen vor Ort massakriert und ausgebeutet wurden.
Herzstück ist wohl Kapitel 4, das das entscheidende Jahr 1884 sowie die umliegenden Jahre teils tagegenau aufschlüsselt und so in großer Detailtiefe darstellt, wie diese Entwicklung vonstattenging. Nicht unerwähnt bleiben außerdem die Veränderungen hierzulande, der Bau der Speicherstadt in Hamburg, die Vollendung der Zollunion unter Bismarck sowie das koloniale Erbe, das uns bis heute in nicht allzu positiver Art verblieben ist.
Hadern mit der Vergangenheit
Anders als das britische oder das französische war das deutsche Kolonialreich nie so ausgedehnt und – bis heute – identitätsstiftend für das jeweilige Volk. Im Gegenteil, die Franzosen sehen sich noch heute als Grande Nation und Großbritannien empfindet sich auch nach dem Brexit noch immer als Weltmacht. Deutschland hingegen… Ja, wir hadern mit unserer Vergangenheit, unserem kolonialen und allgemein menschenfeindlichen Erbe.
Der Erste Weltkrieg wird oft als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, der Zweite Weltkrieg mit Holocaust und all den Auswüchsen rassistischer und antisemitischer Ideologien setzte dem die Krone auf. Was davor war, wird entweder ausgeblendet, weil erst alles Spätere identitätsstiftend war oder unkritisch glorifiziert (ein Gruß geht an die AfD, deren Ehrenvorsitzender Bismarck ja fast noch kennengelernt hat).
Ein fast unbekanntes Elitenprojekt
An dieser Stelle kommt Dietmar Pieper ins Spiel. Er gibt uns anhand seiner Analyse eine Idee, warum das so sein könnte. Der koloniale Drang wurde den Deutschen Ende des 19. Jahrhunderts nämlich nicht wieder und wieder eingetrichtert wie manch spätere Ideologien, sondern er war ein Elitenprojekt, an dem nur wenige teilhatten. Manch nordische Glücksritter machten sich auf, den Nord- oder Südpol zu ergründen, aber die Kaufleute aus den schiffbaren Metropolen Bremen und Hamburg mit langer Handelstradition wollten ihre Firmen im imperialen Modus ausdehnen – und so ihre Reichtümer.
Diese Perspektive ist eine, die in der deutschen Geschichtsschreibung kaum vorkommt. Der Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia „ist eben geschehen“ – wie es dazu kam, diese Frage stellt sich heute kaum jemand. Ähnlich wie die Benin-Bronzen oder die vielen Schädel afrikanischer Menschen, die in den Asservaten deutscher Museen lagern – es gibt ja Gründe und Geschichten, warum und wie diese dorthin kamen. Welche das sind, danach fragt öffentlich fast niemand – nun eben Dietmar Pieper.
Nicht bei Kaiser und Kanzler hängenbleiben
Seine Analyse hat wissenschaftlichen Charakter und liest sich auch entsprechend anspruchsvoll. Aber anders als viele andere wagt Pieper einen Blick in die Gesellschaft hinein und bleibt nicht einfach bei Kaiser und Kanzler hängen. Die Männer, die die deutschen Kolonialbestrebungen vorantrieben, waren zu großen Teilen die Schimmelmanns, Woermanns, Lüderitze oder Oswalds des Kaiserreichs. Aus deren damaligem Handeln gingen Unternehmen und Konzerne hervor, die teils noch heute Bestand haben: Douglas, Hapag Lloyd, die Commerzbank oder auch die heute zum Verkauf stehende Hamburger Hafengesellschaft HHLA.
Gerade die bereits relativ bekannte Geschichte des heutigen Namibia erfährt in dieser Analyse eher eine kurze Betrachtung, die weniger zu den anderen, recht ausführlichen Teilen passt. Jedes Kapitel ist zwar in eine gute und nachvollziehbare Dramaturgie eingebunden, kann aber – teils mit kleineren Abstrichen- auch für sich gelesen werden, wie es ein gutes Buch mit wissenschaftlichem Anspruch ausmacht.
Dass es dabei zu wissenschaftlich sei, wie schon zu hören war, sehen wir nur bedingt so, denn auch wenn Pieper hier in die Tiefe der Analyse geht, stellt er dennoch nachvollziehbare Zusammenhänge her. Andererseits setze ich mich natürlich auch bereits seit mehr als einem Jahrzehnt mit historisch-politischen Texten auf wissenschaftlicher Ebene auseinander, mag also nicht unbedingt der Maßstab für jeden und jede sein.
Mehr Aufarbeitung braucht das Land
Was jedoch deutlich mehr Maßstab für jeden und jede sein sollte, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, auch und vor allem der kollektiven Vergangenheit. Das schafft Dietmar Pieper in Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche sehr gut: Er arbeitet die Gräueltaten der Deutschen und vor allem einer kleinen Gruppe von Interessenträgern heraus und zeigt, wie diese Einfluss auf die Politik des gesamten Reichs genommen haben. Dabei ordnet er Fehlverhalten, wie wir es heute erkennen können und sollten – Rassismus, Sklaverei, Ausbeutung, Menschenhandel – als das ein, was es war und ist: inhuman und eines aufgeklärten Volkes unwürdig.
Schon deshalb erstaunt es kaum, dass sein Buch in der öffentlichen Debatte kaum auftauchte: Wer setzt sich schon gerne mit der wenig glorreichen Vergangenheit des eigenen Volkes auseinander? Dabei wäre es in diesem Fall eigentlich sehr einfach, denn hier wird diese auf die Handlungen und Motive weniger Individuen zurückgeführt. Anstatt sich der dreiundsiebzigsten (und mit Sicherheit bewegenden) Erzählung einer in belletristischer Form verarbeiteten Own-Voice-Geschichte und ihrer Diskriminierung in der heutigen Gesellschaft zu widmen, sollten sich vor allem die kritischen Leserinnen und Leser vielleicht lieber einmal dieses informative Sachbuch zur Hand nehmen. Auch das wäre im besten Sinne „systemrelevant“.
HMS

Dietmar Pieper: Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche – Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben; Februar 2023; 352 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-492-07167-3; 24,00 €
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!
Comments