Wie die Mutter zum Kemmerich

Thomas Kemmerich, FDP-Fraktionsvorsitzender im Thüringer Landtag, ist neuer Ministerpräsident im Freistaat. Thomas wer? Was ist los?

Das dürfte sich auch der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei fragen. Für ihn und seine SED-Nachfolgepartei dürfte gerade eine Welt zusammenbrechen. Er hatte Thüringen seit 2014 als Ministerpräsident so gut regiert, dass er seinen Wahlkampf dieses Mal ohne Verweis auf seine Parteizugehörigkeit führte. Das verhalf ihm zwar nicht dazu, die ohnehin zuvor knappe rot-rot-grüne Mehrheit zu erhalten, doch kann man hier auf die chronische schwache SPD und das Tief der örtlichen Grünen verweisen. Am Ende stand der Verlust der parlamentarischen Mehrheit, den die Koalition bis heute nicht wahrhaben wollte.

Nichtsdestoweniger sah Ramelow sich in der Position, eine Regierung zu bilden. Rot-Rot-Grün arbeitete einen Koalitionsvertrag aus, während die CDU in Erfurt, Berlin und Kiel um eine Position rang, jedoch keine fand. Ramelow fühlte sich sicher, dass er im entscheidenden dritten Wahlgang eine einfache Mehrheit auf sich vereinen würde. Nun wurde er auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Mit ihm sind es alle Parteien aus dem „linken Lager“, die diese Wahrheit erkennen müssen. Vermutlich erklärt diese neue Realitätswahrnehmung die aggressiven Reaktionen, die das Wahlergebnis bei den Steigbügelhaltern der SED-Nachfolger von 2014 hervorrief. Auf die zahlreichen Twitterkanäle von Berliner Granden von SPD und Grünen sei verwiesen.

Eine unübersehbare Ironie

Rückblickend entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die positionslose CDU in Gestalt ihres Landes- und Fraktionsvorsitzenden Mike Mohring davor warnte, voreilig eine Wahl des Ministerpräsidenten anzuberaumen. Ramelow schlug diese Warnung in den Wind und ging das Risiko ein, gegen den partei- und aussichtslosen AfD-Kandidaten Christoph Kindervater anzutreten. Erst im dritten Wahlgang, wie von der Partei auch angekündigt, stieg der FDP-Mann Kemmerich ein und konnte prompt eine Mehrheit – mutmaßlich von AfD, CDU und seiner Partei, auf sich vereinigen. Kemmerich ist zum Amt gekommen wie die Mutter zum Kind.

Spannend ist, was in Deutschlands größtem Reallabor nun passiert. Linken-Mann Ramelow wird vermutlich in die Staatskanzlei fahren und seinen bestimmt nicht minder fassungslosen Mitarbeitern ins Gesicht sagen, dass sie sich schnell überlegen sollten, in welchem VEB sie künftig arbeiten wollen. Er wird sich danach vermutlich in seinem Büro einsperren und die Erlebnisse des heutigen Tages mit einem oder tausend Tropfen eines Thüringer Kräuterlikörs hinunterspülen. Ähnlich wird es den Kollegen aus seinem Kabinett gehen, die teils in Erwartung einer Regierungsbeteiligung sogar nicht einmal ihre errungenen Mandate im Landtag angetreten haben.

Thomas Kemmerich wird selbst nicht wissen, was nun zu tun ist. Es ist kein Regierungsprogramm bekannt, kein Koalitionsvertrag, keine parlamentarische und politisch belastbare Mehrheit. Wie wichtig diese aber zur Führung einer Regierung sind, beschreibt der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière in seinem Buch, auf das hier noch einmal verwiesen sei.

Und nun…?!

Kemmerich dürfte einen Anruf von FDP-Chef Christian Lindner bekommen haben. Die FDP hat jetzt die Chance, eine gesamte Regierung zu berufen, Posten zu besetzen und in Thüringen so weit es ohne parlamentarische Mehrheit geht, zu gestalten. Sie kann sich Partner von der CDU oder sogar den Grünen für einzelne Projekte oder sogar dauerhaft ins Boot holen.

Mit dem Makel, dass die AfD mutmaßlich als Steigbügelhalter für Kemmerich diente, wird er allerdings leben müssen. Er wird nun zeigen müssen, dass er das Handwerk der Demokratie beherrscht, nämlich politische Mehrheiten zu organisieren – und das ohne Beteiligung von extremistischen Kräften. Ob das linke Lager sich hierauf einlässt, ist alles andere als sicher. Dieses ist jetzt aber gefragt, sein Verständnis von Verantwortung für Thüringen zu definieren. Die AfD – das sei an dieser Stelle noch einmal ganz unmissverständlich gesagt – darf an keinen Entscheidungen für die Zukunft des Freistaats Thüringen oder darüber hinaus – einbezogen oder einkalkuliert werden.

Seit die FDP 2017 die Jamaika-Gespräche in Berlin abgebrochen hat, hängt ihr ein weiterer Makel an, nämlich dass sie vor Verantwortung geflüchtet sei. Sie hat nach diesem Coup nicht mehr die Wahl, ob sie schlecht oder nicht regiert. Sie muss jetzt beweisen, dass sie überhaupt regieren kann und das unter widrigsten Umständen. Ob das gut, schlecht, oder falsch funktioniert, das wird sich zeigen. Diese Chance sollte die FDP nutzen und dabei eine größtmögliche Integration aller bürgerlichen Kräfte üben.

101 Jahre nach Weimar kann von Thüringen wieder ein unerwarteter Impuls für Deutschland ausgehen. Er muss jedoch die Lehren aus den damaligen Fehlentwicklungen ziehen, um nicht in der Katastrophe zu enden. Dann bietet sich die hier eine ungeahnte Chance, das echte bürgerliche Lager und die Integrationskraft liberalen Gedankenguts unverhofft zu stärken sowie Extremismus durch kluge Politik zu bekämpfen.

HMS

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Beitragsbild: © Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0 [CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

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