Eine Wahlfamilie

Mehr als zwei Jahre ist es nun her, dass die letzte Folge der ARD-Kultserie Lindenstraße lief. Mutter Beimer und Co. wurden in Rente geschickt, aber sie, Else Kling und all die anderen neugierigen Nachbarinnen und Nachbarn aus der Lindenstraße werden uns dauerhaft in Erinnerung bleiben. Gute Nachbarn sind eben schwer zu bezahlen – nicht von allen will mensch sich fehlende Backzutaten leihen.

Auch in Dominik Bartas gestern bei Zsolnay erschienenem Roman Tür an Tür geht es um die Freuden und Leiden mit den Nachbarn. Nach seinem Debütroman Vom Land legt der österreichische Autor seine Geschichte dieses Mal jedoch nicht in ein malerisches Voralpendorf, sondern ins Herz von Wien und damit in die Enge der Stadt, wo Menschen Tür an Tür, Wand an Wand zueinander wohnen und oft viel mehr übereinander wissen, als sie eigentlich wollen. Wobei letzteres auch auf dem Land leicht möglich ist, wie wir in dem niederländischen Film Zomer erst kürzlich sahen.

Lindenstraße reloaded

In Tür an Tür jedenfalls bezieht Kurt, Anfang 30, Lehrer, homosexuell, eine Mansardenwohnung in der Laimgrubengasse, die zuvor seiner Tante gehörte. Nebenan wohnt Paul Drechsler, über dessen Leben Kurt dank der hellhörigen Wohnung bald mehr weiß, als ihm lieb ist. Anfangs genervt davon, arrangiert er sich schnell mit der Situation, freundet sich mit dem doppelt so alten Drechsler an und pflegt ein angenehmes nachbarschaftliches Verhältnis, das sich auch nicht deutlich ändert, als Drechsler schwer krank wird.

Darüber hinaus zieht Naturwissenschaftlerin Regina einige Zeit nach Kurt in eine freigewordene Wohnung zwei Stockwerke unter ihm. Auch mit der nicht nur anlässlich der Arbeit mit Sexualität befassten Forscherin freundet er sich an – ebenso wie sein Sandkastenfreund Frederik, der nach einer gescheiterten Beziehung mit Yasmina – auch Kurt pflegt eine enge Freundschaft zu ihr – ebenfalls das Leben in der Laimgrubengasse aufmischt. Und als letzten Hauptcharakter dieser kleinen Ersatzfamilie gibt es noch Ferhat, einen Flüchtling aus Erbil, der Kurts Abendkurs anfangs besucht, später aber eher Haus- als Schulbesuche macht. Also wirklich alles ein bisschen wie in der Lindenstraße.

Türken vor Wien

In diesem Setting begleiten wir Kurt und seine Umgebung über etwa 200 Seiten, wobei der Hauptteil der Geschichte im Sommer 2014 spielt, wie Barta durch Geschehnisse und Entwicklungen aus jenem Jahr immer wieder deutlich macht. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien, der Aufmarsch des so genannten Islamischen Staats in Syrien und dem Irak, die europäischen Besuche des türkischen Präsidenten Erdogan oder die sich anbahnende Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen Osten versetzen uns ein knappes Jahrzehnt zurück.

Generell scheinen Barta diese Themen und die Region am Herzen zu liegen. Bereits in Vom Land ging es um eine Flüchtlingsgeschichte und eine heimliche, zarte Liebe und auch hier finden wir wieder eine solche Story. Der häufig bereits verdrängte Syrienkrieg spielt eine wesentliche Rolle bei Barta, das Drama im Irak ist Thema und die unbeachtete Misere des Libanon wird immer wieder aufgegriffen. Und hin und wieder gibt Barta sogar gekonnt manch einen ernsten oder auch witzigen Ausblick auf die damalige Zukunft – künftige (und mittlerweile bereits verblichene) Bundeskanzler inklusive.

Dieses Mal ist aber gerade die Homosexualität nicht so latent verborgen wie in Bartas Erstlingswerk, sondern sie wird gleich auf den ersten Seiten manifest. Und das, obwohl Protagonist Kurt vordergründig mit sich und seiner Sexualität zwar im Reinen zu sein scheint, sie aber in der Realität doch nicht auslebt. Frederik wird es zuteil, dies durch eine vielleicht etwas emotionale, aber sehr zielsichere Bemerkung zu entlarven und in seinem Kumpel dahingehend einen nötigen Gedankenprozess in Gang zu setzen. Sehr schön!

Nein, meinen Nachbarn mag ich nicht!

Die Geschichte, in die uns Barta und Kurt mitnehmen, ist dabei zumeist trotz der Schwere mancher Themen leicht verdaulich und gut nachvollziehbar, auch wenn sie sich zwischendurch ein wenig verliert. Im Umfeld eines Wien-Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan nämlich gibt es eine Geschichte rund um Ferhat und Kurt, die sich irgendwie verrennt und nicht so sehr zu der restlichen Erzählung passen mag.

Klar, damit soll wohl auch angedeutet werden, dass wir uns unsere Nachbarn nicht immer aussuchen können und die Türkei mit ihrem Autokraten wohl nicht der Nachbar ist, den sich alle in Europa wünschen. Tun können wir dennoch nur wenig dagegen. Und dennoch geht es uns an, was in unserer Nachbarschaft geschieht, ob wir es wollen oder nicht. Diese Geschichte wiederum erzählt Barta auf mehreren Ebenen sehr gut und anschaulich.

Kenne ich ihn überhaupt?

Was lernen wir daraus? So nervig manche Nachbarin oder mancher Nachbar auch sein mag – meiner pflegt es spätnachts Onlinespiele zu zocken und dabei energisch durch seine Wohnung und mich aus dem Schlaf zu brüllen –, die meisten haben dennoch ihre guten Seiten. Haben wir uns schon einmal auf sie eingelassen, ihre Blumen gegossen, ihnen etwas vom Bäcker mitgebracht? Vielfach dürfte das nicht der Fall sein. Bevor wir also zu schnell über die Menschen urteilen, die uns nahe sind – und sei es nur räumlich – sollten wir sie kennenlernen. Nicht jede Begegnung muss ausgehen wie mehrere mit Anna Ziegler aus der Lindenstraße, die so manch einen Mann zu Fall brachte.

Dominik Barta erinnert uns mit Tür an Tür gerade in Zeiten, in denen viele wieder ihre Nachbarschaft entdecken an den Wert guter Nachbarschaft, guter Freundschaft und auch der Ehrlichkeit zu sich selbst und verbindet dies mit manch einer wichtigen politischen und gesellschaftlichen Botschaft. Trotz einiger weniger Längen in einem ganz allgemein sehr fesselnden und knappen Buch legt Barta also auf humorvolle Art und Weise sanft den Finger in die Wunde manch platzgeschundener Städterinnen und Städter und unterhält uns in seinem neuen Roman also mit reflektiertem Humor.

HMS

PS: Hier gibt es die Spotify-Playlist zum Buch.

Dominik Barta: Tür an Tür; Juli 2022; Hardcover mit Schutzumschlag, 208 Seiten; ISBN: 978-3-552-07303-6; Zsolnay; 23,00 €; auch als ebook erhältlich

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert