Nur die Harten kennen diese Karten

Manche Nachbarn sind laut, unangenehm, unfreundlich, müffeln oder man versteht sich einfach nicht. Aber man kann sich häufig zumindest aus dem Weg gehen, wegziehen oder den Müll über den Zaun werfen (fördert die Freundschaft aber wohl auch nur bedingt) – quasi eine besondere Form der Couple Challenge. Bei Staaten ist das oft etwas anderes. Sie können sich nicht so einfach aussuchen, wo sie ihr Gebiet, ihre Heimat, haben. Und – sofern sie nicht wie Madagaskar allein auf einer Insel liegen – haben sie Nachbarn und sind mit diesen doch meist auf irgendeine Weise verbunden.

Manche Grenzen sind komisch

Eigentlich lohnt es sich da doch, ein guter Nachbar zu sein, denn weglaufen geht ja nicht und wenn er es will, kann der Nachbarstaat einem das Leben durchaus ein wenig vermiesen., beispielsweise ein Atomkraftwerk direkt an der Grenze bauen oder Flusswasser ungenießbar machen. Fabian Sommavilla hat in seinem Buch 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn zusammengestellt und im KATAPULT Verlag herausgegeben, bei dem er laut Gründer und Big Boss Benjamin Fredrich als Praktikant gearbeitet hatte.

Joa, hier waren Profis am Werk…

Zum Inhalt des Buchs ist eigentlich kaum mehr etwas zu sagen, denn der Titel verrät bereits sehr gut, was hier geschieht. Sommavilla illustriert in 60 Kapiteln von jeweils etwa vier Seiten kuriose Grenzverläufe, wie sie entstanden, wie die politischen Positionen der jeweiligen Nachbarn hierzu sind und teils auch, wie wenig nachbarschaftsfreundlich sie an den Grenzen agieren. Ein für sich genommen schon süffisant aufbereitetes Inhaltsverzeichnis stimmt erst recht auf das im klassisch-beliebten KATAPULT-Stil gestaltete Buch ein.

Konfrontation und Kooperation zwischen Staaten

In lockerem Stil, mit ausreichend historischem und politischem Hintergrund sowie mit der erwähnten KATAPULT üblichen recht anschaulichen Bebilderung illustriert Sommavilla seine Inhalte sehr gut. Darunter finden sich so manches Ergebnis eines alten Grenzdisputs (beispielsweise Neuguinea, Bolivien und seine Nachbarn Chile und Peru oder Israel/Palästina), aber auch Beispiele von Kooperation zwischen Staaten, wenn sich keine für beide passende Lösung finden lässt. Gemeinsam verwaltete Gebiete – so genannte Kondominien – zum Beispiel, Kooperation in Seegebieten, auf deren Teilung sich niemand einigen kann (China hat sowieso gefühlt überall Ansprüche angemeldet), sind auch mit dabei. Dass viele heutige Grenzverläufe sich aus historischen Kontexten ergeben und die Folge kolonialer Herrschaft sind, wird auch immer wieder betont.

Schlafen auf der Grenze? Im Hôtel Arbez geht das.

Daneben gibt es auch einige wahrlich kuriose Fälle, etwa ein Hotel, das in Teilen in der Schweiz und in anderen Teilen in Frankreich liegt, oder die in vielen Orten praktizierte Lösung eines Eruvs, einer jüdischen Abhilfe, um das antikere Konzept einer Stadtmauer zu ersetzen. Auch Flussläufe, die Grenzen markieren, sind immer wieder vorhanden. Bereits in Roger Eberhards Bildband Human Territoriality gab es Fotos hiervon. Der Zusammenhang zu dem Bildband, der frühere Grenzverläufe zeigt, wird dann klar, wenn man bedenkt, dass solche veränderten Fluss- und somit Grenzverläufe auch zu Konflikten und Disputen führen können.

Es steckt immer eine Geschichte dahinter

Per se mögen viele der Geschichten erst einmal lustig klingen, aber oft gibt es einen ernsten Hintergrund. Grenzen markieren – und das wird in Sommavillas Buch auch immer klar – die Einflussgebiete einzelner Staaten und somit deren Gewalten. Hier geht es immer auch um Interessen, um Militär, um den Kampf zwischen Demokratie und Diktatur. In diesem Sinne ist 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn durchaus ein Buch, das auf spaßige Weise auf so manch ernstere Situation hinweist.

Wo der Kalte Krieg wieder „aufgeflammt“ ist – Russland sucht sich einen Einfluss zu sichern.

Der übergreifende Ansatz jedoch fehlt hier leider etwas. Für sich genommen ist jedes der Beispiele interessant und manche sind auch in Teilen vergleichbar. Kondominien tauchen beispielsweise in mehreren Kapiteln auf und hier wäre ein Hinweis auf die jeweils anderen Kapitel doch ganz nett. Oder beispielsweise auch Punkte, an denen mehr als drei Grenzen aufeinanderstoßen. Davon gibt es gar nicht so viele auf der Welt, aber sie tauchen in mehreren Kapiteln von Sommavillas Kuriositätenkabinett auf. Hier hätte man durchaus aufeinander verweisen können. Diese größere Linie fehlt dem Buch.

Kein Maßstab!

Was ebenfalls wünschenswert wäre, sind Maßstäbe. Im Schulunterricht haben wir gelernt, dass eine gute Karte eine Legende besitzt, aber auch einen Maßstab. Legenden gibt es zwar auch bei Sommavilla, aber manche Entfernung oder das Ausmaß so mancher Grenze oder Distanz wäre für die Leserinnen und Leser durchaus auch interessant und könnten ein breiteres Verständnis der Sachlage ermöglichen, auch wenn es natürlich wirklich nicht überall erforderlich ist. Gerade ein Verlag, der mit Karten so erfolgreich wurde und ist, sollte dieses kleine Einmaleins beherrschen und vor allem beherzigen.

Auch Beispiele von Kooperation finden sich bei Fabian Sommavilla, manche recht kurioser Natur.

Alles in allem aber ist Fabian Sommavillas Buch 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn ein sehr gutes und humorvolles Überblickswerk, es eignet sich hervorragend als kurze Lektüre für zwischendurch und bietet eine große Menge an Fakten und nicht immer ganz nützlichem Wissen, um auf der nächsten Party dem nervigen Nachbarn die Show zu stehlen. Für Nerds, Geographinnen und Geographen oder aber auch wirklich historisch Interessierte ist es auf jeden Fall ein interessantes Buch und zeigt einmal mehr, welche Faszination von Karten und vor allem den Geschichten dahinter ausgehen kann. Wie auch Hans-Peter Bartels betont, Politik und vor allem Außenpolitik, sind Gebiete, mit denen sich viele Menschen mehr auseinandersetzen sollten. Fabian Sommavillas Buch jedenfalls lädt sehr dazu ein.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Fabian Sommavilla: 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn; 1. Auflage, April 2021 (2. Auflage in Vorbereitung); 256 Seiten; Hardcover; ISBN: 978-3-948923-17-4; Katapult Verlag; 22,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert