Aus Scheiße Kapital schlagen

„Opposition ist Mist“, wie der frühere SPD-Chef Franz Müntefering einmal herausfand. Aber auch aus Scheiße kann man bekanntermaßen Geld machen – oder in diesem Fall politisches Kapital schlagen. Die Opposition ist in der Corona-Krise mit Lockdown und Maskendiskussion erstaunlich ruhig und macht sehr wenig aus ihrer aktuellen Position. Umgekehrt wird in der aktuellen Lage gerne bemängelt, dass die Opposition ihrer demokratischen Rechte beschnitten werde, wie wir an anderer Stelle besprechen.

Fakt ist, dass sich die Oppositionsparteien im Bundestag (AfD, FDP, Linkspartei und Grüne) bei der Verabschiedung des Maßnahmenbündels zur Bekämpfung der Corona-Krise sehr konstruktiv gezeigt haben, was ein schnelles Verfahren und die überwiegend wenig komplexe Ausgestaltung des Programms betrifft. Hier haben sie überwiegend die gebotene staatspolitische Verantwortung gezeigt, derer es in der aktuellen Lage bedarf.

Fakt ist aber auch, dass die Arbeit im parlamentarischen Betrieb im Wesentlichen weitergeht, wie Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus jüngst in einem Interview mit dem Tagesspiegel bekräftigt. Das trifft unverändert auch auf die Oppositionsparteien zu. Doch dafür hört man von ihnen tatsächlich relativ wenig. Dabei bietet die aktuelle Krise durchaus die Situation, die Kernanliegen der Opposition oder auch weiterer Gruppen unter den Eindrücken der aktuellen Entwicklungen weiter zu verfolgen.

Wo sind die grünen Themen?

Beispiel Umweltschutz: Die Grünen treten bekanntermaßen für diesen ein und haben hier eine ihrer Kernkompetenz. Vor einem Monat noch sprach die deutsche Öffentlichkeit darüber, wie sich die Luftverschmutzung in Wuhan, dem globalen Epizentrum der Krise, dank eingestellter Industrieproduktion und Lockdown dramatisch verbessert hat. Deutschland hat wider Erwarten laut Aussage von Bundesumweltministerin Svenja Schulze eine Chance, die Klimaziele für 2020 noch zu erreichen – auch wenn es wohl durch diesen Einmaleffekt bedingt wäre und sich die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung erst beweisen müsste. Die Tagesschau berichtete am 1. April in ihrer Mittagsausgabe entsprechend.

Das sind doch Themen, mit denen sich die Grünen gerade in ihrem Kernthema profilieren könnten. Wie jüngst schon berichtet wurde, sind die Verkehrszahlen in Berlin in den letzten Wochen massiv nach unten gegangen – die Luft ist besser geworden und weniger durch Abgase belastet. Wieso schlagen die (Berliner) Grünen daraus kein Kapital und treiben lange gehegte Wunschprojekte wie den autofreien S-Bahn-Ring (oder zumindest die Diskussion darüber) jetzt voran?

Freiheit und Digitalisierung

Beispiel FDP: Die FDP schafft es gerade etwas besser, sich zu profilieren, hat aber auch noch Luft nach oben. Sie hat die Aufmerksamkeit massiv auf die Belange der mittelständischen Wirtschaft und kleine Unternehmer gelenkt und ist auch aktiv dabei, die Exit-Szenarien auf den Tisch zu bringen. Bürgerrechte sollten nicht zu lange eingeschränkt sein und es ist schön, dass die FDP es lange Jahre nach einer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wieder schafft, sich für diese Themen zu erwärmen, wie kürzlich die Hamburger Abgeordnete Katja Suding.

Plakatmotiv für die Bundestagswahl 2017 // © FDP

Aber im Rückblick auf den Wahlkampf 2017 kommt einem noch etwas anderes in den Sinn, nämlich der bekannt gewordene FDP-Wahlspruch „Digitalisierung first, Bedenken second“. Die aktuell hochschnellende Zahl an Videokonferenzen, das erzwungen digitale Leben im Home Office und Online-Learning sind doch genau die Ziele, die die FDP für die Gesellschaft ausgegeben hat. Eine digitale Gesellschaft kann effizienter Arbeiten und hieraus Kapital für den allgemeinen Nutzen schlagen.

Dabei funktioniert bei der Digitalisierung nicht alles einwandfrei: Funklöcher noch und nöcher, die Posse um die Datenpanne bei der Investitionsbank Berlin-Brandenburg bei der Beantragung der Corona-Hilfen oder Datenschutzprobleme beim momentan sehr populären US-Video-Conferencing-Unternehmen Zoom. Jetzt wäre auch ein guter Zeitpunkt für die FDP, diese Argumentation weiter zu verfolgen und auf Missstände hinzuweisen.

Neuer Atem

Apropos Videokonferenzen und Home Office: Auch wenn sie keine Oppositionspartei darstellen, selbst die Gewerkschaften hätten momentan eine Chance zu beweisen, dass unsere Gesellschaft sie noch braucht. Die Arbeit im Home Office bietet ganz neue Herausforderungen. Sie fordert ganz grundsätzlich neue Arbeitsmodelle und neue Regularien. Auch wenn viele Kapazitäten vermutlich derzeit darin gebunden sind, den einschlägigen Betriebsräten bei den Verhandlungen um Kurzarbeit u. ä. zur Seite zu stehen, jetzt ist auch die Gelegenheit für eine Debatte zur Arbeit im Home Office. Diese Debatte kann und sollte wohl auch von den Gewerkschaften ausgehen. Warum sie bislang nicht kommt, ist schleierhaft.

Die aktuelle Situation stellt alle vor große Herausforderungen. Menschen müssen mit physischer Distanz leben. Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle hinterfragen. Genauso müssen dies auch die Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen tun. Aber Corona bietet eben auch eine Chance, dem bereits seit längerem an gesellschaftlicher Unzufriedenheit, wirtschaftlich eintretender Stagnation und in Nachhaltigkeitsfragen ambivalenten deutschen Patienten neuen Atem einzuhauchen.

HMS

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