Dieser Text erscheint im Rahmen unserer Reihe Parlamentarische Pause ≠ politische Pause. Wir werden in der sommerlichen Zeit weiterhin politische Bücher besprechen, uns mit den Sommerinterviews von ARD und ZDF beschäftigen, selber Schwerpunktthemen setzen, Interviews führen und uns einiges Spannendes einfallen lassen. Am Ende steht ein Fazit, wie wir den Sommer mit und für euch erlebt haben.
Eine Woche nach der ARD ist nun auch das ZDF in seine Reihe der Sommerinterviews gestartet. Theo Koll hatte als ersten am Gast gestrigen Sonntag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Potsdam zu Gast. Der frühere Außenminister erzählte, wie er die Corona-Zeit bislang erlebt, beispielsweise hat der Mensch Steinmeier zwei Tage seinen Keller entrümpelt und dabei sein altes Fahrrad gefunden. Zudem zeigt er auf, welche Haar- und auch tieferen Risse er in unserer Gesellschaft sieht und übt für seine und die Verhältnisse seines Amts teils überraschend deutliche Kritik an den Führungspersönlichkeiten in Deutschland und darüber hinaus.
„Krisen sind eine Art Brennglas, sogar Katalysator […]“ für die Gesellschaft
Krisen seien nicht der große Gleichmacher, weil sie alle gleich betreffen. Das stimme nicht, so der Bundespräsident. Krisen seien eher „eine Art Brennglas, sogar Katalysator“, die Ungleichheiten offenbarten. Er sprach über die Bildungsungleichheit, die sich durch Home Schooling neu zeige, aber auch die zwar vorhandene Wertschätzung für die Personen in systemrelevanten Berufen. Die Solidarität und Wertschätzung, die sie an vielen Stellen erfahren hätten, sei jedoch erst dann wirklich von Bedeutung, wenn sie sich beispielsweise in einer angemessenen Bezahlung widerspiegele. Das dürfte ein recht deutlicher Hinweis gewesen sein, die Diskussion um Prämien für Pflegekräfte nicht auf den Schultern derer auszutragen, die dies unmittelbar betrifft – und im schlimmsten Falle Enttäuschung hinterlassen dürfte.
Wahlrecht ist „Kernfrage der Demokratie“, vernünftiger politischer Diskurs essentiell
Recht deutlich wurde Steinmeier auch bei einer Thematik, die das politische Berlin seit Jahren der politischen Prokrastination begleitet: dem aktuellen Wahlrecht und dessen dringend notwendiger Reform. In der letzten Woche vor der Sommerpause hatten die Oppositionsfraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken einen gemeinsamen Vorschlag zur Abstimmung stellen wollen, was die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD verhinderten. Stattdessen gab es eine Reihe weiterer, teils unausgegorener, Vorschläge, auf die Union und Sozialdemokraten sich jedoch auch nicht einigen konnten. Die Thematik wurde alsdann erneut vertagt.
Steinmeier sagte nun mit großer Deutlichkeit, dass die Fraktionen und das gesamte Parlament hier zu einer Einigung kommen müssten, es die Aufgabe des Parlaments sei, die auf dem Tisch liegenden Vorschläge zu diskutieren und eine Entscheidung zu treffen. Änderungen im Wahlrecht seien eine „Kernfrage der Demokratie“, die anderswo bereits Unruhen provoziert hätte. Umso wichtiger sei es, dass in einer funktionierenden Demokratie alle Parteien hier die nötige Kompromissbereitschaft und Verantwortung an den Tag legten, um diese Thematik zu regeln.
Enttäuschung und die mangelnde Übernahme von Verantwortung durch demokratische Institutionen sind wesentliche Faktoren, die eine weitere Spaltung der Gesellschaft begünstigen. Steinmeier sprach deshalb auch über Gespräche, die er mit Bürgermeistern hatte und die sich über zunehmenden Hass auch auf lokaler Ebene beklagten. Er sprach daher den hehren Wunsch aus, die zunehmende Verrohung des Diskurses, Hass und Hetze, die auch durch soziale Medien zunehmend salonfähig gemacht würden, zu stoppen und zu einer von Vernunft geprägten politischen Auseinandersetzung (zurück) zu finden.
Auch außenpolitisch muss Verantwortung übernommen werden
Im letzten Teil beschwört Steinmeier dann auch den Multilateralismus. Europa müsse versuchen, einheitlich und gemeinsam bei der Krisenbekämpfung zu handeln, auch wenn in der ersten Bekämpfung der Krise nationale Maßnahmen im Vordergrund standen. Er hoffe daher auf Übereinkünfte beim Europäischen Rat nächste Woche, die ein gemeinsames Handeln bei den „ökonomischen Auffangmaßnahmen“ ermöglichen.
Äußerst deutlich wurde der Bundespräsident bei der Einschätzung der Situation in Hongkong. Er erklärte, dass die deutsche und europäische Außenpolitik China unmissverständlich klar machen müsse, dass die westliche Position zu Pekings Vorgehen in Hongkong „nicht ein Zustand aktueller Empörung“ sei, sondern eine „nachhaltige, negative Veränderung zu den europäischen, zu den westlichen Staaten“ die Konsequenz wäre, wenn es nicht einlenke. Starker Tobak – ein deutsches Staatsoberhaupt, das so deutlich öffentliche Kritik gegenüber einem der größten Handelspartner übt, hat es lange nicht gegeben.
Welches Fazit können wir aus diesem Gespräch ziehen? Bundespräsident Steinmeier mahnt – und er mahnt in einer Lautstärke und einer Deutlichkeit, die man von ihm seit den gescheiterten Jamaika-Gesprächen wohl nicht mehr gehört hat. Es geht darum, in der Krise das Vertrauen der Bürger in den Staat, die demokratischen Institutionen, sanft, aber spürbar, zu erhöhen. Deutschland müsse nach innen wie nach außen ein verlässlicher Partner für Bürgerinnen und Bürger, für Verbündete und für die Menschen in Not sein und seiner Verantwortung gerecht werden. Gerade während Deutschland internationale Schlüsselpositionen besetzt – die EU-Ratspräsidentschaft und den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – scheint Steinmeiers Appell wohl dosiert und gut getimed zu sein. Die politischen Verantwortungsträger der Republik sind gut beraten, seine Aufrufe zu hören und nach ihnen zu handeln.
HMS