Stotternder Motor

Einen Monat später als geplant konnte am Sonntag die neue EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen ihre Arbeit aufnehmen Das Europäische Parlament gab in der vergangenen Woche endlich grünes Licht. Diese Verzögerung steht sinnbildlich für das Stottern, das aktuell im Verhältnis der beiden größten Volkswirtschaften in Europa, Deutschland und Frankreich, zu erkennen ist. Vor allem in der Außenpolitik wäre es aber von größter Bedeutung, dass die beiden Länder wieder einen größeren Konsens erreichen.

Frankreich hatte nach 1945 schon immer eine größere außen- und globalpolitische Bedeutung als Deutschland.

Als Sieger-, Atom– und Kolonialmacht hatte Paris stets eine größere außenpolitische Agenda als das geteilte Land, welches das geografische Zentrum des Kalten Kriegs bildete. Nachdem sich Deutschland vor etwa 15 Jahren aber langsam von seiner wirtschaftlichen Rolle als „kranker Mann Europas“ zu erholen begann, begann auch ein spannender Bedeutungsverlust der Grande Nation. 2005 unter Präsident Jaques Chirac gab es erste Proteste, die den heutigen Gelbwesten nicht unähnlich sind. Unter seinen Nachfolgern, dem Lebemann Nicolas Sarkozy und später dem Vespa-Liebhaber Francois Hollande, setzte sich dieser Bedeutungsverlust schleichend aber stetig fort.

Das mag auch daran gelegen haben, dass „Madame Non“, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel einst nicht unbedingt schmeichelhaft genannt wurde, von den Pariser Verantwortungsträgern gerne unterschätzt wurde. Zudem kam es ihr zugute, dass US-Präsident Barack Obama sich mehr Berlin zuwandte denn Paris oder anderen europäischen Hauptstädten. Unter Hollande jedenfalls war Frankreich außenpolitisch de facto in der Bedeutungslosigkeit versunken und Deutschland an seine Stelle getreten.

Dies sollte sich erst ändern als Emmanuel Macron 2017 in den Elysée-Palast gewählt wurde. Dieser zeigte große Ambitionen und ging anfangs durchaus auf Deutschland zu – seine bekannte Sorbonne-Rede nur wenige Tage nach der Bundestagswahl 2017 ließ er vorher vom Kanzleramt gegenlesen.

Auf die Antwort musste er allerdings lange warten. Zudem kam sie nicht von der Bundeskanzlerin, sondern von Annegret Kramp-Karrenbauer, damals „nur“ CDU-Chefin, die erst wenige Wochen später als Nachfolgerin von der Leyens im Amt der Verteidigungsministerin tatsächlich außenpolitisches Gewicht erhielt. Sie galt zwar damals schon als potentielle Nachfolgekanzlerin, aber dennoch wirkte es zu jenem Zeitpunkt so als ob der Azubi eines DAX-Konzerns dessen Quartalszahlen bekanntgibt während die CEO auf Wanderurlaub ist.

Natürlich, Merkel hatte und hat mit einer dauerzerstrittenen Koalition zu kämpfen – das Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheids vom Wochenende dürfte hieran nicht unbedingt viel zum Positiven geändert haben. Dieser Zustand wird dazu beigetragen haben, dass sich das wahrgenommene Kräfteverhältnis in den vergangenen Monaten eher wieder umgekehrt hat – leider nicht zum Vorteil für eines der beiden Länder. Aus Berlin kommen europa- und außenpolitisch aktuell kaum Impulse und die, die aus Frankreich kommen, sind mehr als bedenklich.

„Hirntote“ NATO und freundliche Russen

NATO-Flagge

Macron bezeichnete die NATO kürzlich als „hirntot“ und scheint eine Öffnung hin zu Russland zu betreiben. Deutschland trägt künftig wie quasi allen europäischen Staaten mehr zu den operativen Kosten der NATO bei – die USA zahlen im Gegenzug weniger und Frankreichs Anteil verändert sich als einziger nicht. Das Schlimme ist, dass Deutschland diesem Verhalten kaum etwas entgegenzusetzen hat, außer dass die Bundeskanzlerin sich lautstark beklagt haben soll. Es bleibt zu hoffen, dass beim am heutigen Dienstag startenden NATO-Jubiläum in London dieser Zustand klargestellt und beendet werden kann.

Oder ein anderes Beispiel: Die Deutsche Telekom und der französische Konkurrent Orange diskutieren wohl derzeit eine Fusion. Laut Einschätzung von Analysten wäre das ein sehr sinnvoller Deal, der beiden Unternehmen und beiden Ländern helfen könnte. Die Schaffung eines „europäischen Champions“, die Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in seinem Entwurf der Nationalen Industriestrategie 2030 Anfang des Jahres forderte, wäre somit in einem Schlüsselbereich einen Schritt näher. Berlin lässt diese Überlegungen aktuell auch weiter laufen, aber aus Frankreich gibt es wohl schon erste Signale, dass bei einer Übernahme gewährleistet sein müsse, dass kein Ungleichgewicht zugunsten Deutschlands entstünde.

Das sollte nicht sein. Der europäische Gedanke wird durch solche Denkmuster konterkariert. Die unilaterale Annäherung an Russland und die unvorsichtigen und plakativen Gedanken schaden beiden Ländern und allen Verbündeten. Anfang 2019 wurde im Vertrag von Aachen noch die deutsch-französische Freundschaft beschworen. Diese sollte nun in diesem Fall auch gelebt werden.

Ursula von der Leyen gilt als Macrons Kandidatin für den Vorsitz der Europäischen Kommission. Die Wahrheit dürfte sein, dass auch Merkel einen entscheidenden Anteil daran hatte, ihre ehemalige Verteidigungsministerin an dieser Stelle zu positionieren. Es wäre schön und wünschenswert, wenn von der Leyen es schafft, Deutschland und Frankreich wieder näher zueinander zu bringen. Europa braucht keine irrlichternden Staatsführer.

HMS

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