Für sein publizistisches Gesamtwerk wurde Joseph Vogl (oben zu sehen während seiner Dankesrede) kürzlich der Günther Anders-Preis für kritisches Denken verliehen.
Von Nora Eckert
Joseph Vogl gilt als einer der prononciertesten Kritiker des Finanzmarktkapitalismus. Es werden wohl gerade seine in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienenen Publikationen gewesen sein, die ihn als Preisträger besonders qualifizierten. Denn sie zeichnen sich durch ihren klaren analytischen Blick ebenso aus wie durch ihre argumentative Überzeugungskraft – so in Das Gespenst des Kapitals von 2010, dann 2015 Der Souveränitätseffekt und 2021 schließlich Kapital und Ressentiment.
Die Liste seiner Publikationen ist lang und die thematische Vielfalt breit. Joseph Vogl lehrt als Professor für neuere deutsche Literatur– und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Kulturkritik und Ökonomie bilden in seiner wissenschaftlichen Arbeit schon seit zwei Jahrzehnten einen Schwerpunkt. 2002 stand Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen am Anfang seiner Sondierungen zur „monetativen Gewalt“.
Die Preisverleihung fand am 8. Mai im frisch renovierten Wilhelm-von-Humboldt-Saal der Staatsbibliothek Unter den Linden statt. In seiner Dankesrede ging der Preisträger im Rahmen dessen, was er gesellschaftsanalytisch „Finanzialisierung“ nennt, speziell auf die Hintergründe des Brexit ein, die sich für mich so neu und spannend anhörten, so enthüllend und nachvollziehbar waren, wie ich es noch nie gehört habe. Der Lektüregriff zu seinem im letzten Jahr bei C.H. Beck erschienenen Buch Kapital und Ressentiment war darum für mich unumgänglich. Er liefert dort, wie es im Untertitel heißt, „eine kurze Theorie der Gesellschaft“.
Hier einige Zitate, die Vogls Absichten umreißen:
Zu seinen zentralen Thesen gehört, die Internetindustrie zunächst als Erneuerung eines Finanzregimes zu begreifen, „das sich seit den 1970er Jahren formierte und über diverse Krisen hinweg mit der Bewirtschaftung von Informationen aller Art eine neue Quelle der Wertschöpfung erschloss. Information ist zur wichtigsten Ressource im gegenwärtigen Kapitalismus geworden.“
Und weiter: „Elektronische Netzwerke haben […] eine effektive Fusion von Finanz- und Informationsökonomie ermöglicht, die eine schnelle Expansion des Finanzsektors und die Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus bewirkte.“
„Im Zusammenhang von Netzwerkarchitekturen, Plattformindustrie und Digitalfirmen sind die Steuerung von Gesellschaften und die Beherrschung öffentlicher Sphären selbst zu einem unternehmerischen Projekt geworden. Die damit ausgelösten Debatten über fragmentierte Öffentlichkeiten und politische Polarisierung, über Demokratieverlust und eine aktuelle Konjunktur der Verlogenheit werden schließlich zum Anlass genommen, das Wechselverhältnis zwischen Wirtschaftsprozessen, Weltbezügen und Affektökonomien zu verfolgen.“
Das klingt recht anspruchsvoll, vielleicht sogar ein wenig abgehoben, aber es trifft exakt den Zustand unserer Gesellschaft. Wissenschaftlicher Anspruch paart sich bei Joseph Vogl jedoch mit sprachlicher Stilsicherheit und Verständlichkeit – obschon auf höchstem Niveau. Ich kann mich hier nur der Professorin für Philosophie Petra Gehring anschließen, die in ihrer Laudatio, auch auf Reaktionen auf Vogl einging – die übrigens auch schon Günther Anders mit seinem Werk erfuhr: „Expertenkreise, etwa die Ökonomen, beschweren sich über unbotmäßig viel Philosophie. Andere, auch akademische Philosophen finden das alles zu kulturwissenschaftlich, zu apokalyptisch und vermissen die lehrbare Botschaft. Uns hingegen als Leserinnen und Leser begeistert, dass da gerade weder zu viel noch zu wenig ist, sondern dass Vogls Texte ‚treffen‘!“
PS: Der Günther-Anders-Preis wird von der Internationalen Günther Anders-Gesellschaft im Zwei-Jahres-Rhythmus verliehen und ist mit 20.000 € dotiert (finanzieller Träger des Preises ist die C.H.Beck Stiftung in München). Joseph Vogl ist der dritte Preisträger nach Dietmar Dath (2018; 2021 vertreten auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und war 2022 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert) und Corine Pelluchon (2020).
Nora Eckert ist Publizistin und Ausführender Vorstand bei TransInterQueer e. V.
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