„Petrus“: Harte Bildrhetorik im Zufall

Beitragsbild: Fotografien: © Francesca Catastini

Wahrnehmung ist alles. Wahrnehmung ist subjektiv. Wahrnehmung ist unzuverlässig, ist trügerisch. Wahrnehmung ist oft unterbewusst. Wahrnehmung ist, was Verhalten formt. Verhalten ist gelebte Wahrnehmung. Herkunft ist Teil dessen, ist das, was ursprünglich formt und nie, nie hinter uns gelassen werden kann. Gerade in letzter Zeit beschäftigen sich Literatur und Film wieder ausgiebig mit diesen Motiven – Ursprung im Sinne von Familie geht immer. 

Es begann mit einem Kräuter…

In ihrem Projekt Petrus, das 2019 im Kehrer Verlag als Buch erschien, befasst sich die italienische Künstlerin Francesca Catastini mit dem Einfluss von Eindrücken, Bildern und Bildung darauf, wie unsere Wahrnehmung und Persönlichkeit geformt werden. Anstoßpunkt war für die 1982 geborene Catastini dabei der Moment, als sie von einem früheren Nachbarn gebeten wurde, das Haus, in dem er aufwuchs, zu fotografieren. In dem Haus, das der Mann namens Albrecht nun vor allem als Lager nutzte, entdeckte sie die verschiedensten Objekte, die von seiner Kindheit bis ins frühe Erwachsenenleben reichten.

© Francesca Catastini

So auch eine staubige schwarze Flasche mit rotem Verschluss, wie Francesca Catastini im Buch beschreibt – „Petrus“, ein italienischer Likör, der in den 80ern sehr in Mode gewesen sei (es ist ein Bitterlikör – Boonekamp, 45 % Vol.) und der als der perfekte Drink für den modernen starken Mann, der gemäß seiner Natur lebe, beworben wurde. Nun stellte sich der Künstlerin, die sich gern für ihre Kunst und zur Erforschung von Objekten, Oberflächen und Formen in Steinbrüchen aufhält, die Frage: Was ist Natur?

© Francesca Catastini

Und so nahmen das Projekt und der vorliegende Band Petrus nach und nach selber Form an, in dem Catastini Analogien von natürlichen Formen, künstlich geschaffenen und wieder nachgestellten Figuren, inszenierten Momenten und manipulierten Bildern schafft. In einem Gespräch mit The Calvert Journal anlässlich ihrer Teilnahme an der europäischen Plattform Futures Photography im Jahr 2019 weist sie in dem Zusammenhang darauf hin, dass das Wort „Manipulation“ zwar mittlerweile negativ aufgeladen sei, insbesondere in Bezug auf die Fotografie eigentlich aber bedeuten würde, etwas mit den Händen zu kontrollieren.

…und führte zum Spiel mit Kräften

Diesen Gedanken setzt sie nicht nur im Gespräch, sondern auch in ihrer eindrücklichen und spitzen Bildstudie fort: Würden wir den eindeutigen Grundsatz, dass unsere Wahrnehmung sowohl  als Betrachterin und Betrachter aber auch als Urheberin und Urheber eines Werks möglicherweise ausgetrickst werden könne, wir aber auch selber austricksen (oder drastischer: getäuscht werden und täuschen) könnten, akzeptieren, würden wir dann unvoreingenommener auf Fotografien schauen? Hier können wir als Rezipienten der Sätze und vor allem des ästhetisch-rätselhaften, sich einer konkreten Analyse verweigernden Werkes Petrus uns wiederum fragen, ob Catastini eine rhetorische Frage stellt und ob diese schon Teil ihres Tricks ist.

© Francesca Catastini

Sie stellt auf zwei folgenden Doppelseiten eine bearbeitete Schwarz/Weiß-Fotografie eines Kindergeburtstags dem beschrifteten Bild eines Stücks Leber gegenüber oder an anderer Stelle eine „a phrase“ genannte Pfeilzeichnung, die eine körperliche Silhouette darstellen könnte, dem phallischen Bild einer Zigarre in gummibehandschuhten Händen mit dem Titel „saying that“. Jedoch sind das eigentlich gar keine Bildtitel, sondern Fragmente eines Satzes, der sich durch das gesamte Buch zieht.

© Francesca Catastini

Zwischendrin immer wieder Stein, mal einzeln, mal in größerer Struktur im Steinbruch, dann als Skulptur. Als solche hat Catastini übrigens auch in kleiner Form die Venus von Milo aus Butter nachgeformt (dabei einer Idee der Londoner Industrieausstellung von 1851 folgend), aus Interesse am Prozess des Formens (also der Manipulation), aber auch des Vergehens. Ein Foto ihrer Venus findet sich natürlich im edel aufbereiteten Band und funktioniert als Diptychon mit einem „Grand Gendarme“ aus Stein. Ein ungemachtes Bett, an der Wand eine Vogelzeichnung; eine Hand, deren Zeigefinger Pomade in einer Dose berührt. Ein Bär, so stark, so ausgestopft, so schwach. So stehen hier also wörtlich das Zarte und Harte nebeneinander, vielleicht auch gegeneinander.

Alles ist in Bewegung

Nicht umsonst bleibt „ihr“ Petrus gesichtslos. Geht es doch immer wieder um die bildlichen Motive, die uns prägen, um die Rhetorik der „natürlichen Rolle“, die unser Aufwachsen beeinflusst. Jedenfalls in Bezug auf die westliche Kultur, wie die Europäerin betont. Dabei scheint es an mancher Stelle so, als würde sie selber eher zufällig Konnotationen entdeckt und so belassen haben. Jedenfalls sagt Petrus, wie bereits angedeutet, uns als Betrachtenden nicht, wie wir den Band wahrzunehmen haben. 

Etwas, das beim wiederholten Blättern und Betrachten von Petrus auffiel, war, wie die vermeintlich festen und stabilen, eben harten Formen, doch amorph zu sein scheinen. Womöglich liegt es am Auftauchen von Lippen an mancher Stelle, den Kurven im Stein, wer weiß. Aber die Struktur scheint im Wandel, was sie in Steinbrüchen naturgemäß ist, auf festgehaltenen Fotografien hingegen eher nicht. Und doch bewegt sich der Band. Genau wie unsere Wahrnehmung. Bemerkenswert.

QR

PS: Manipulation, Formen, das Spiel mit Männlichkeit, Geschlechtslosigkeit und Übergängen begegnet uns viel, wir haben Petrus auch gespiegelt zu manchen Fotografien in New Queer Photography betrachtet, die Schnittstellen durch dargestellte Verformung sind Wahnsinn. 

© Francesca Catastini

PPS: Francesca Catastini, die sich als „akrobatische“ Leserin bezeichnet, sagt, sie habe für Petrus Essays von Pierre Bourdieu, Der Mensch und seine Symbole von Carl Gustav Jung, aber auch Preferences of Female Rhesus Monkeys for Infantile Coloration oder Images of diluted masculinity of contemporary vampire characters through racial discourse in Modern American Gothic gelesen – Respekt! Wir empfehlen Mythos Geschlecht von Mineke Schipper, das wir auch demnächst besprechen werden.

Einen Blick ins Buch gibt es hier.

Francesca Catastini: Petrus; 2019; Festeinband, mit Struktur; 64 Seiten; 16,5 x 23 cm; 24 Farb- und 7 S/W-Abbildungen; Englisch; Texte: Francesca Catastini, Veit Stratmann, Albrecht Wiegenlied (Alberto Nannini); Design: Francesca Catastini und Kehrer Design (July Mollik); ISBN: 978-3-86828-952-7; Kehrer Verlag; 35,00 €

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