In der Klimawissenschaft haben wir in der jüngeren Vergangenheit von „Kipppunkten“ gehört, die, so sie überschritten werden, uns Menschen das Heft des Handelns in Sachen Klimaschutz aus den Händen nehmen. Mit genau dieser Thematik befasst sich das fiktionale Highlight des im Rahmen der diesjährigen ARD-Themenwoche #WIELEBEN – Bleibt alles anders ausgestrahlte Gerichtsfilm Ökozid, der auch den einen oder anderen Kipppunkt überschreitet und, selbst wenn bis dorthin alles gut lief, dann nicht mehr hinter die eine oder andere Intervention zurückkann.
Der beinahe kammerspielartige Gerichtsfilm Ökozid vom bisher vor allem durch große Dokumentationen aufgefallenen Regisseur und Mit-Drehbuchautor Andres Veiel zeigt einen Gerichtsprozess im Jahre 2034. Eine Koalition aus 31 Staaten des globalen Südens verklagt die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz, da sie der Politik der Deutschen die Schuld an den enormen durch den Klimawandel verursachten Schäden – beispielsweise Hunger, Armut, Tod – geben. Zunächst muss vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt werden, ob die Klage überhaupt zugelassen und verhandelt wird, denn allein dies würde einen Präzedenzfall schaffen, dessen Konsequenzen für das globalpolitische System kaum abzusehen sind.
In der Realität, aber nicht wirklich
So ist die Ausgangslage von Ökozid theoretisch in der Realität verankert und lädt somit zu einem interessanten und komplexen Gedankenspiel ein. Dies allerdings nur, wenn man*frau nicht zu lange über jene theoretische Realitätsverankerung nachsinnt. In diesem Fall nämlich ist es unumgänglich, auf ein recht fettes „Naja, aber…“ zu stoßen. Denn dadurch, dass der Film seine Handlung zwar in der relativ nahen, aber dennoch 14 Jahre und somit vier reguläre Bundeslegislaturperioden entfernt liegenden, Zukunft ansiedelt, eben aber die Handlung mit Faktenlage Stand 2020 bestreitet, beraubt er sich und uns Zuschauer*innen einer vielschichtigen Herausforderung und lässt das Gedankenspiel letztlich Schall und Rauch sein.
Dass der Film aus einem Doku-Projekt heraus entstand, ist toll und dass hier mit Fakten gearbeitet wird und es sich nicht um ein Gerichts-Melodrama par excellence handelt, ist wunderbar. Doch hätte sich die Faktenlage nicht geändert, hätte man ebenso das eine oder andere von Wissenschaftlern entwickelte und als wahrscheinlich befundene Zukunftsszenario genommen und den Klagezeitraum um fünf Jahre erweitert. Dann wäre auch der Sprung auf 2034 insofern weniger willkürlich gewesen, als dass die Auswirkungen manch einer unterlassenen Handlung auf das Klima sich natürlich erst mit Verzögerung auswirken, aber dieser Sprung ist eben auch nur aufgrund eines angenommen Szenarios möglich. Diesen Mut semi-fiktives Terrain zu betreten, hätte man*frau dann auch für die Ausgangslage erwarten dürfen. Oder zumindest das Jahr 2021, schließlich bezieht sich die Klage auf die Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder und Dr. Angela Merkel und letztere endet in diesem Film 2021 – was durchaus wahrscheinlich ist.
Ist das nicht Oliver Kalkofe?
Apropos Kanzler und Regierung: Es ist ganz unterhaltsam, wie es in Ökozid nicht geschafft wird, den Altkanzler Gerhard Schröder als Zeugen in den provisorischen Gerichtssaal des „Flughafens [sic!] Tegel“ zu bekommen. Es stellt sich allerdings die Frage, wieso die Autor*innen Andres Veiel und Jutta Doberstein beispielsweise einen zusammengesetzten Charakter als Beispiel eines ehemaligen SPD-Abgeordneten kreieren, aber nicht auf den realen Sigmar Gabriel zurückgreifen, der nicht nur Umweltminister im Kabinett Merkel I sowie Wirtschaftsminister und Vizekanzler in ihrem Kabinett III war, sondern als derzeitiger (im Film dann sicherlich ehemaliger) Vorsitzender der Atlantik-Brücke die angedeutete globalpolitische Komplexität des möglichen Ausgangs des fiktiven Verfahrens noch besser hätte abbilden können. Angemerkt sei allerdings, dass der kreierte SPD-ler als Sinnbild für die Schröder-Jahre steht.
So sind dann auch alle weiteren Zeug*innen der Anklage und Verteidigung, aus mal verschiedenen zusammengesetzten realen Personen, mal sehr deutlich aus realen Einzelpersonen hervorgehenden, erfundene Charaktere, mit der Ausnahme von Jürgen Resch, der hier von Falk Rockstroh gespielt wird. Ein wenig wundert es, dass Resch sich nicht direkt selber spielte, ganz unpassend wäre das nicht gewesen. Die Zeugen sind allesamt gut besetzt, wenn auch besagter Ex-SPD-Abgeordneter nahe an der Karikatur spielt. Dafür ist Peter Prager als ehemaliger VDA-Präsident Riemscheidt (*hust*) wie immer wunderbar, Alexander Radszun spielt den Meteorologen und Klimaforscher Prof. Dr. Walter von Kegeler mit einer fabelhaften Arroganz und Philipp Schneider von der Umweltorganisation Germanwatch wird von Frank Röth schön erschüttert-resigniert-seriös angelegt.
Ganz schlimm ist allerdings die Maske, die die Maskenbildnerinnen der wunderbaren Martina Eitner-Acheampong hier aufgemalt haben, die erinnert an die schlimmsten entstellten Fratzen aus Die Getriebenen (ausgerechnet dort war Angela Merkel noch am glaubhaftesten aufgemacht). Dafür ist sie vom Habitus und der Stimmlage sehr nah der Merkel dran, was ein wenig entschädigt. Dennoch sieht es aus, als hätte Oliver Kalkofe sich in den Film verirrt.
Ich mach‘ mir den Film, widdewidde, wie er mir gefällt
In den Hauptrollen gibt es wenig zu beklagen. Nina Kunzendorf als Chefanwältin der klagenden Koalition der 31 Staaten, Ulrich Tukur als Anwalt der Bundesrepublik und Edgar Selge als Vorsitzender Richter sind glaubhaft und solide. Enttäuschend und eher hölzern ist Friederike Becht als Co-Anwältin der Koalition der 31 Staaten, das tut nicht weh, lässt eine*n aber das ihr ins Buch geschriebene Engagement für die Sache eher so lala wirken. Sven Schelker (Johannes Itten in Die neue Zeit) macht aus seiner kurzen Rolle als manipulativer, an den Briten Dominic Cummings angelehnten, Social Media-Operator das Beste und glänzt durch plausibel herablassenden Schalk „Ahhw, jetzt ist das Internet kaputt.“ Leider werden hier Bedeutung und Gefahr der möglichen Manipulation von Medien nur angedeutet, ein Ableger-Film mit Schelker in der Hauptrolle ist wünschenswert.
Kommen wir zurück zur anfangs kritisierten, die Zuschauer*innen ein wenig hinters Licht führende Ausgangslage. Dass der Film möglichst unaufgeregt Diskussionen anstoßen möchte und auch die Möglichkeit darstellt, damit Leben können zu sollen, wenn mal wer anderes Recht bekommt, fein und löblich und notwendig. Die Idee zu dem Film in dieser Form entstand laut Aussagen der RBB-Film und Dokuchefin Martina Zöllner und des Produzenten Thomas Kufus im Presseheft nach den für die Grünen so erfolgreichen Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Bayern 2018. Die Umfragen derzeit geben die sehr wahrscheinliche Möglichkeit einer grünen Vizekanzlerin (oder wer es oberflächlicher, aber flauschiger mag: eines grünen Vizekanzlers) her und dass der Film lediglich mit den Fakten bis 2020 arbeitet, eine durchaus anzunehmende Veränderung der politisch-regierenden Landschaft und somit einem Wandel in der deutschen und globalen Umweltpolitik jedoch nicht einmal im Nebensatz erwähnt, ist inkonsequent bis faul und feige. Selbst Dokumentationen wagen den Blick in die Zukunft. Und der Umgang mit Technik und Social Media wird in Ökozid ebenfalls aufgrund von Mutmaßungen weiterentwickelt.
Das fällt insbesondere am Ende auf, wenn der Film zwar hoffnungsvoll den „Ruf nach einem Politiker-Typus, der sich nicht von kurzfristigen Erfolgen leiten lässt, sondern auch vorausschauend seiner Verantwortung gerecht wird, zum Wohle aller“ (Martina Zöllner) erklingen lässt, dadurch aber a) die Gemengelage mit Hilfe eines aus dem Hut gezauberten weißen Kaninchens auflöst und b) durch diesen Appell ins Melodramatisch-Fiktive hinübertritt, ja nahezu auf die letzen vier Minuten hinübereilt.
„Zuvor bei den Klimawandels“
Wenn es also erzählerisch passt, verlässt Ökozid die sonst so dokumentarisch gepflasterten Pfade und das ärgert, oder verwirrt, denn unter der Maßgabe hätten die Macher*innen eben auch jenen oben genannten Schritt machen und mit den anzunehmenden Szenarien der kommenden vier bis fünf Jahre wenigstens in Nebensätzen den Reiz des Gedankenspiels erhöhen können.
Ökozid ist ein lobenswerter, durchaus interessanter, größtenteils gut geschriebener und sogar kurzweiliger Film. Den Wunsch eine sachliche Debatte anzustoßen wird er jedoch nur bedingt erfüllen können, denn letztlich ist er ein „Zuvor bei den Klimawandels“, das einen in die Zukunft verlagerten Gerichtsprozess nutzt, um Zuschauer*innen die ungern Dokumentationen schauen, mal ins Bild zu setzen. Jene mögen möglicherweise diskutieren, sofern sie einschalten. Alle anderen sehen einen zackigen, wenn auch mutfreien Gerichtsfilm, der ein dann doch erwartbares und simples Ende hervorbringt.
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Ökozid ist ab dem 15.11.2020 in der ARD-Mediathek verfügbar. TV-Ausstrahlung: Mittwoch, 18. November 2020, 20:15; im Anschluss läuft Maischberger. Das Thema, in der Sendung wird Sandra Maischberger mit ihren Gästen den Film und die Schuldfrage in der Klimakrise diskutieren.
Ökozid; Deutschland 2020; Regie: Andres Veiel; Drehbuch: Andres Veiel, Jutta Doberstein; Musik: Ulrich Reuter, Damian Scholl; Darsteller: Nina Kunzendorf, Ulrich Tukur, Friederike Becht, Utsav Agrawal, Edgar Selge, Sven Schelker, Martina Eitner-Acheampong, Brenda Turner; Peter Prager, Tilo Nest, Hans-Jochen Wagner; Laufzeit: ca. 89 Minuten; Eine Produktion der zero one film in Koproduktion mit dem rbb, NDR, WDR, gefördert vom Medienboard Berlin-Brandenburg sowie der Film- und Medienstiftung NRW, im Vertrieb der rbb media.
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