ACHTUNG: 18+ / NSFW-Beitrag.
Ein Bildband der ein schwules Pornofilm- und Erotik-Label während Dreharbeiten in den USA und Spanien begleitet kann ja nur Porno sein? Nö (wobei auch das in Ordnung wäre), ist er nicht. Sondern schön wunderbare schwarz-weiß Fotografie mit viel Schwanz und Wesen.
Der Fotograf Kenneth Gruenholtz ist für den, seinem Ehemann gewidmeten, im Salzgeber Verlag erschienenem, Bildband Uncensored – My year behind the scenes with Michael Lucas and his Models ganz nah dran an den Models und auch an Lucas selbst. Damit ist nicht nur die bildliche Nähe zum Körper gemeint sondern, zumindest in Teilen, auch die Nähe zu sehr persönlichen Momenten. Gruenholtz und Lucas kennen sich bereits seit einiger Zeit, wie der Fotograf im Vorwort schreibt. Und sicherlich ist es Gruenholtz auch aufgrund der wohl vorhandenen Vertrauensbasis möglich, mit Uncensored nicht nur einen Band zum Lucas Entertainment-Label sondern ein fotografisches Memoir mann-männlicher Sexualität und Körperlichkeit voller kleiner Feinheiten vorzulegen.
So konnte der New Yorker Fotokünstler die Dreharbeiten und Fotoshootings in New York, auf Fire Island, in Puerto Vallarta und Barcelona über einen Zeitraum von einem Jahr begleiten und im Stil der Dokumentarfotografie die erwähnten Momente einfangen. So hebt sich Uncensored schon durch sein Konzept von anderen mit der schwulen Erotikbranche verbundenen Bildbänden ab.
Sexy Mystery und Politik
So ist Nacktheit in dem bei Salzgeber veröffentlichten Bildband eben gerade nicht die womöglich von manchen als plump empfundene Pornographie sondern die Ästhetik einer Selbstverständlichkeit von teils erregter Nacktheit. Und ja, ihr lieben, nun kommt’s: Damit wird es je nach Betrachtungswillen beinahe politisch. Anders politisch zwar als im Band Beautiful Berlin Boys, der queere Nacktheit zum gesellschaftspolitischen Statement macht und auch anders als in Francesca Castatinis Petrus, wo nackter Stein und abgeschliffene Kanten Männlichkeitskonzepte, Gender und Sexualität hinterfragen.
Definitiv aber ist es insoweit von Relevanz, als dass der Faktor, es ginge bei pornographischen Filmen nur um Sex und also auch im Leben der Models um nichts anderes, hier zumindest indirekt hinterfragt wird. Job hin oder her: Was lässt sich schon grundsätzlich gegen eine ausgeprägte und offene Sexualität sagen? Und lässt sich der damit verknüpfte Vorwurf der Oberflächlichkeit und die immerfort unterstellte „Live hard, die young“-Attitüde verknüpfen? Denken und ficken können auch Hand in Hand gehen.
Es zeigt sich sehr pragmatisches Denken bei Lucas-Model Shawn Reeve, der, von Gruenholtz auf seine sexuelle Orientierung angesprochen, sagt, dass er dazu nichts sagen wolle, denn er sei ganz Verschiedenes für ganz verschiedene Menschen und dieses Mysterium sei seiner Karriere hilfreich. Das muss nun natürlich von niemandem goutiert werden, dennoch wird klar, hier setzt sich eine Person damit auseinander, wie sie wirken kann und gibt dem ganzen Dick eben auch Brain. Fang- und Funfrage: Wissen diejenigen unter euch, die es gern geschaut haben (oder noch schauen), was sie an den Czech Hunter-Filmen (anfangs) reizvoll fanden? Sicherlich ein Wort mit großem M.
Unbemerkte Ironie und bewusste Einordnung
Auch die gut durchdachte Anordnung des aufwändig gestalteten, großformatigen Uncensored ist vor allem für Menschen interessant, die zumindest ein rudimentäres Englisch lesen können, da auch durch die Anmerkungen Gruenholtz’ immer mal wieder Zusammenhänge zwischen oder Folgerungen von vorhergehenden Aufnahmen aufgebracht werden. Durch seine manches Mal augenzwinkernden und durchaus nicht selten überrascht klingenden Einschübe wird uns Betrachtenden auch deutlich, wie experimentierfreudig der Fotograf ist, ohne dabei sein Konzept aus den Augen zu verlieren und wie sehr er sich auch der technischen Ebene der Fotografie verhaftet sieht. Das merken wir auch an Stellen, an denen er über verschiedenen Belichtungsoptionen schreibt, Schatten einbezieht. Oder anders: Da klickt nicht mal jemand spekulativ vor sich hin.
Wobei eben auch Zufälligkeiten Tolles ergeben; wie die Fotografie von Wagner Vittoria und Bogdan Gromov mit ihren erigierten Schwänzen auf quasi freiem Feld und mit dem Mond im Hintergrund zeigt (Licht!) oder jenes Bild am Pool, das diverse Models zeigt, die eigentlich zu einem Promotion-Shoot gerufen worden sind und dann doch harter (und akrobatischer) Aktion begegnen. Ebenfalls am Wasser, womöglich weniger zufällig, aber doch mutig sind Bilder von Andrey und Jeffrey in Cherry Grove auf Fire Island, denn dort ist Nacktheit am Strand verboten. Auch eine Zufälligkeit: Wenn Gruenholtz Models am Fenster fotografiert und erst später realisiert, dass die Bilder durch eine im Hintergrund zu sehende Kirche ironisch konnotiert sind.
Verboten war auch lange Zeit die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare, etwas, was die Models Andrey Vic und Joaquin Santana in einem in der Nähe von Barcelona entstandenen Bild kommentieren (politisch!). In dem dort stattfindenden Shooting gibt es auch sehr viele Bilder von Ruslan, sicherlich eines der auch in Einzelbildern (großartig das Handtuch-auf-dem-Kopf-Bild) – neben Michael Lucas selbst – präsentesten Models in Uncensored.
Um über die Präsenz wieder auf einen anfänglich geäußerten Gedanken zurückzukommen: Die Selbstverständlichkeit der Schwänze macht Freude, wird aber nicht übertrieben. Es gibt einige ganz großartige Gruenholtz-Bilder von Ben und Dakota, die einen Fifty Shades of Grey-Moment nachstellen (der auch durch die Anmerkungen des Fotografen wieder einen noch feineren Kontext bekommt) und auch ohne blankzuziehen eine erotische und einfach wahnsinnig anziehende Kraft haben. Manche der Models sind übrigens in der Tat Paare.
Tod der Ignoranz
Auch gibt es Bilder, in denen es ebenfalls nicht nur offenbar explizit zugeht, sondern auch frisch emotional, wie jenes nach dem Ende einer gefilmten Szene, das einfach nur Fröhlichkeit und Leichtigkeit ausdrückt. Oder dass das das Cover zierende Bild von Jackson Radiz dem eines mit ihm und Michael Lucas folgt, welches wohl zwei in sich ruhende Menschen in luxuriöser Erregung zeigt. Somit sind wir wieder bei selbstverständlicher Geilheit, die Gruenholtz auch in jenen Bildern einfängt, die einzelne Models an ihren freien Tagen zeigen. Ebenso zeigt er die individuelle Vorbereitung auf Szenen und erläutert uns, wie er vor einem schweren Sturz gerettet wurde. Wir spüren Menschlichkeit und Augenhöhe.
Etwas, das wohl oftmals fehlt, wenn es um das harte Gewerbe geht. Oder warum geschieht es sonst, dass sich so viele der Menschen, die sich eben noch auf diese oder jene Szene einen gewedelt haben, nach dem Tod einzelner dazu bemüßigt fühlen, Dinge wie oben genanntes „Live hard, die young“ oder „Kein Wunder, bei dem Lebensstil“, „Sind doch eh alle auf Drogen“, „Der war eben ne Nutte“ und derlei in den digitalen Äther zu kippen? Zuletzt nach dem Tod der Pornodarsteller Alex Riley und Ty Thomas (beides keine Lucas-Models). Leute – das sind Menschen. Diese Boshaftigkeit und wohl beschämte Unmenschlichkeit sagt mehr über jede einzelne Person die sowas schreibt, als diejenigen, die ihnen davor noch den Saft entlockt haben.
Insofern mag hoffentlich auch der vorliegende Bildband dazu beitragen, nicht nur die Ästhetik von ausgelebter Sexualität zu zeigen, sondern auch zu verdeutlichen, dass hier Menschen und nicht stumpfe Objekte Teil unserer emotionalen Entlastung, sexuellen Freigängigkeit und Emanzipation sind.
Dazu lädt Uncensored durchaus ein. Es ist eine fotografisch wertvolle, hochwertig gebundene und gedruckte Publikation, die bei aller auf sie zu beziehenden Hintergründigkeit auch schlicht sexy ist, sich gut anfühlt und Freude bereitet.
AS
Gruenholtz: Uncesored – My year behind the scenes with Michael Lucas and his Models; 2. Auflage, 2021; Hardcover, gebunden; 176 Seiten; 32 x 24 cm; Texte in englischer Sprache; ISBN: 978-3-95985-600-3; Salzgeber Buch; 59,00 €
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