„Wenn Mann und Mann sich umarmen, würde wenigstens die Geschlechtslust gestillt werden“

Ein weiteres hartes Jahr scheint bevorzustehen. Für viele Cineasten und Kälteliebhaber dürfte dafür schon die Verschiebung des Publikumsteils der diesjährigen Berlinale auf den Sommer stehen. Doch wer weiß – da die Berlinale sich ohnehin unter neuer Führung etwas modernisieren und wandeln wollte, könnte dies ein guter Anstoßpunkt sein. Im vergangenen Jahr fand in dieser Hinsicht jedenfalls nichts Halbes und nichts Ganzes, dafür gehörig Aufgeblasenes statt, wofür exemplarisch schon eine gezogene und unfreiwillig komische Auftaktveranstaltung stand. 

Gar nicht aufgeblasen und auch nicht halbgar ist der Film Mit Siebzehn, mit dem der Regisseur André Téchiné zum Wettbewerb der 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin im Jahr 2016 eingeladen wurde. Zwar gab es keinen Preis, dafür auch in Deutschland zügig Aufmerksamkeit für den Coming-Out-Coming-of-Age-Film (kurz: Cocoa) mit einem Ticken Familiendrama, Kriegskritik und Landschaftsgemälde.

Immer mitten rein

Damien (Kacey Mottet Klein) und Thomas (Corentin Fila) gehen in die selbe Klasse. Womit ihre offenbaren Gemeinsamkeiten auch schon enden. Die beiden pubertierenden Jungs können einander nicht ausstehen und spätestens, nachdem Thomas Damien unvermittelt ein Bein im Unterricht stellt, hauen sie sich mit ungesunder Regelmäßigkeit gegenseitig in die Fresse. Thomas lebt in den Bergen, wo er sich mit seinem Adoptivvater Jacques (Jean Fornerod) um den Hof und seine kränkliche Adoptivmutter Christine (Mama Prassinos) kümmert und jeden Tag einen Schulweg von drei Stunden auf sich zu nehmen hat.

Nachdem Damien (Kacey Mottet Klein, li.) sich mit Thomas geprügelt hat, stellt sein Vater (Alexis Loret, re.) ihn zur Rede. Doch Damiens Mutter (Sandrine Kiberlain, Mi.) hat die Angelegenheit schon auf ihre Weise geklärt – Thomas soll einfach einziehen. // © Luc Roux/ARTE France

Damien hingegen wohnt mit seiner Mutter Marianne (fantastisch: Sandrine Kiberlain), einer Ärztin, und seinem oft abwesenden Vater Nathan (Alexis Loret), einem Hubschrauberpiloten bei der Armee, im Dorf am Fuße der Pyrenäen. Marianne stellt bei der Mutter von Thomas eine Schwangerschaft fest und überweist sie aufgrund früherer Komplikationen ins Krankenhaus. Ebenso besteht sie darauf, dass Thomas für diese Zeit bei ihr und Damien unterkommt.

Sehr zu dessen Missfallen und trotz eines trotzig vereinbarten Waffenstillstands nehmen die Spannungen zu. Aus welchem Grund die beiden sich fortwährend prügeln, scheint ihnen gar nicht klar, aber notwendig, das muss es sein. Mag dieser Abstoßung eine uneingestandene Anziehung zu Grunde liegen?

Arthur Rimbaud gibt den Ton vor

In Mit Siebzehn zitiert an früher Stelle Damien im Unterricht aus einem Gedicht Arthur Rimbauds und auch der Filmtitel bezieht sich auf ein Gedicht des homosexuellen Dichters und Geschäftsmanns: „Man ist nicht ernsthaft, wenn man 17 Jahre alt ist“ (französisch: „On n’est pas sérieux, quand on a dix-sept ans“, das ihr übrigens vertont hier finden könnt). Somit sind Ausrichtung und Selbstanspruch des Films schon einmal klar definiert. Weitere Andeutungen in Richtung Literatur und Denken finden sich über die Laufzeit verteilt: Im Sportunterricht werden die Schüler „Victor“ und „Hugo“ aufgerufen, später reden wir über Platon, das Verlangen und seine offene Haltung zur Sexualität (siehe unsere Überschrift). 

Damien (Kacey Mottet Klein, li.) hilft Tom (Corentin Fila, re.) dabei, das Abitur zu machen. // © Roger Arpajou/ARTE France

Solche Feinheiten zeigen, wie sehr sich die Macher*innen des Films Gedanken machten und belohnen uns aufmerksame Zuschauer*innen natürlich mit einer gar nicht so kleinen Freude über den Respekt, der hier auch uns entgegengebracht wird. Zumal diese Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge auch die anfänglich an mancher Stelle noch etwas sperrige Erzählweise auflockern. Insbesondere in der ersten Hälfte findet sich durchaus die eine oder andere Länge.

Jedoch muss ich gestehen, mir nicht sicher zu sein, ob ich das anders bewerten würde, hätte ich diesen Film im Alter der beiden Hauptprotagonisten oder ein wenig später gesehen. Denn grundsätzlich gibt es am Aufbau des Films und der bei allem um sich Schlagen dennoch ruhigen Entwicklung des Drehbuchs, das André Téchiné gemeinsam mit Céline Sciamma schrieb, nichts auszusetzen. Mit Siebzehn strahlt von Beginn an ein stilles Verständnis für all die Eigentümlichkeiten seiner Charaktere aus, respektiert vor allem Damien und Thomas, so dass man sich als Zuschauer*in sofort für die Entwicklung und Verknüpfung aller zu interessieren beginnt und dieses Interesse lässt über die Laufzeit nicht nach.

Sensibel, aber nicht „woke“

Es wäre interessant zu erfahren, für welche Teile des Drehbuchs Sciamma verantwortlich ist, die zuletzt international für ihren Film Porträt einer jungen Frau in Flammen gefeiert wurde, in welchem ihre Ex-Freundin Adèle Haenel eine der Hauptrollen spielt (und den wir in den kommenden Tagen besprechen werden). In manchen Momenten meinen wir ihre Sprach- und Erzählform zu erkennen, die einigen aus Water Lilles oder Tomboy bekannt sein dürfte. 

Thomas (Corentin Fila) ist gereizt. // © Luc Roux/ARTE France

So geht Mit Siebzehn zwar mit allen Problemlagen sensibel um – sei es das sexuelle Erwachen und die Frage nach der eigenen Sexualität, die Sorge um den in Kriegsgebieten eingesetzten Vater, die Angst als Adoptivsohn nicht das „echte“ Kind zu sein – schlägt sich dabei aber nicht mit übertriebener Wokeness herum, sondern bleibt aufrichtig und erzählt, so blöde das klingt, nah am Menschen. Und Menschen sind halt auch mal dumm und leider, leider, leider oft nicht die sinnstiftendsten verbalen Kommunikatoren. Zum Glück reichen hier und da ja aber auch mal Blicke. Da sind wir dann auch wieder bei der Sensibilität.

Wie sich im Film auch die Jahreszeiten und somit Bilder von Kälte und Wärme abwechseln, wechseln auch die Gefühlslagen der Charaktere, mal blitzschnell, mal etwas verzögert. So oder so kein leichtes Spiel, das hier allen Beteiligten ziemlich eindrucksvoll gelingt. Insbesondere Corentin Fila, der im Vorfeld über keinerlei Schauspielerfahrung verfügt haben soll, leistet als Thomas viel, ist er doch auch der Charakter der sich die meisten Erwartungen auferlegt, nur um sie dann aufgrund seiner eigenen Geringschätzung sich selbst gegenüber zu konterkarieren. Eine fein ausgearbeitete Figur, die faszinierend dargestellt wird.

Das größere nuancierte Rad

Auch die sich verändernde Dynamik zwischen Damien und Thomas sowie Thomas und Marianne ist hochgradig interessant, fühlt sich manches Mal vollkommen nachvollziehbar und alltäglich an und sorgt an diversen Stellen für herzhafte Lacher. Wenn Damien Thomas erpresst, ihn einmal quer durch die Gegend zu einem vermeintlichen Date zu fahren und Thomas dieses später mehr oder weniger kapert, um sich über technologisch hochgerüstete Landwirtschaft zu unterhalten, ist das ein famoser Moment. 

„Lieber eine Alkoholikerin, als eine Depressive zur Mutter.“ // © Roger Arpajou/ARTE France

So geht es in Mit Siebzehn am Ende also nicht nur um eine vielleicht erwachsende Leidenschaft und Liebe zwischen zwei Jugendlichen, sondern auch um das Erwachsenwerden und Erwachsensein und was das eigentlich heißt im Angesicht des steinigen Alltags und dem einen oder anderen unerwarteten Drama. Ein fein nuancierter, ungemein sympathischer Film, der vorgibt nur eine Geschichte zu erzählen, dabei aber doch ganz nebenbei ein größeres Rad dreht.

Mit Siebzehn (OT: Quand on a 17 ans); Frankreich 2015; Regie: André Téchiné; Drehbuch: André Téchiné  & Céline Sciamma; Musik: Alexis Rault; Kamera: Julien Hirsch; Darsteller: Kacey Mottet Klein, Corentin Fila, Sandrine Kimberlain, Alexis Loret, Jean Corso, Mama Prassinos, Jean Fornerod; Laufzeit: ca. 110 Minuten; FSK: 12

Der Film ist noch bis zum 27. Mai 2021 um 23:30 Uhr in der ARD-Mediathek verfügbar.

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