Wir haben es vielfach verlernt, im Einklang mit der Natur zu leben. Wir zerstören sie, wo wir können, oft ohne uns dessen oder der Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, bewusst zu sein. Dabei umgibt sie uns zu jedem Moment und wir sind ihren Gewalten ausgesetzt.
Das Zusammenspiel von Mensch und Natur, das Leben der Menschen in ihr, erfährt in unserem Alltag zu wenig Aufmerksamkeit. Anders ist dies in Irene Solàs Roman Singe ich, tanzen die Berge, der in der Übersetzung von Petra Zickmann aus dem Katalanischen im Trabanten Verlag erschien und 2020 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
In den Pyrenäen
In vier Teilen erzählt Solà eine Geschichte, die alles andere als linear verläuft. Sie spielt in den katalanischen Pyrenäen, in denen gleich im ersten Kapitel der Bergbauer Domènec vom Blitz getroffen wird. In diesem Umfeld ereignen sich daraufhin einige weitere Dinge, die lose zusammenhängen, aber immer wieder aus einer anderen Perspektive – teils auch bedeutend später – erzählt werden.
Anders als in anderen Geschichten, sind es aber nicht nur die Menschen, die hier zu Wort kommen. Auch Tiere und eben die Objekte der Natur dürfen ihre Perspektiven beisteuern, die für sich allein vielleicht teils nur wenig Sinn ergeben, sich aber in dieses große Ganze einfügen. Ob es Wolken sind, die omnipräsenten Berge, verschiedene Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes oder dessen Besucherinnen und Besucher: Niemand bekommt mehr als ein Kapitel, aber die meisten Figuren tauchen dennoch mehr als einmal auf. Wie in einem Puzzle setzt sich so über die Lektüre der etwa 200 Seiten hinweg eine ganze Geschichte Stück für Stück sehr gekonnt zusammen.
Wer ist die Natur?
So stellt sich zu Beginn der meisten Kapitel erst einmal die Frage: Welche Perspektive erwartet uns nun? Manchmal wird dies gleich in den ersten Zeilen klar, manchmal aber auch erst deutlich später. Das lädt zum heiteren Erraten der in diesem Kapitel als Ich-Erzähler(in) fungierenden Hauptfigur ein, aber eben auch zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit der jeweiligen Geschichte.
Die Natur hat dabei immer eine starke Rolle. Durch die Personifizierung von Wolken, der Berge oder auch mancher Tiere, wird noch einmal die Macht unterstrichen, die die Natur nicht nur in den Pyrenäen auf uns ausübt. Singe ich, tanzen die Berge ist damit ein ganz besonderes Beispiel des Nature Writing, das die Autorin mit so viel mehr gekonnt verbindet.
Mythen und Menschen
Solà reichert dies nämlich beispielsweise um manch einen Mythos zum Beispiel zur Entstehung des Gebirgszuges an. Regional kennen wir das auch in Deutschland, beispielsweise wenn es um die alten Legenden im Alpenraum geht, die Watzmann-Sage zum Beispiel, der aus einem alten Fürsten, seiner Frau und seinen Kindern bestehen soll – alle versteinert, wie sich von selbst versteht.
Gleichzeitig gibt es aber natürlich auch die Menschen in dieser Geschichte, inklusive einer kleinen lesbischen Randstory. Und wir erleben hier den tristen Alltag in einem Bergbauerndorf, der sich viel um eine Metzgerei und eine Kneipe dreht, aber in dem auch hässliche Epochen wie der Spanische Bürgerkrieg und die damals begangenen Massaker eine Rolle spielen.
Domènecs Hinterbliebene spielen eine wichtige Rolle in diesem Konglomerat aus Beziehungen, denn ohne seinen Tod wäre es zu verschiedenen Entwicklungen – oft erst Jahre später – gar nicht gekommen. Auch wenn dies von Irene Solà in ihren Geschichten oft nur implizit erzählt wird, dieses Herumscharwenzeln um den eigentlichen Kern macht den Reiz dieses Romans aus, ebenso wie manch experimentelle Erzählweise in Form von Gedichten oder skizzenartigen Illustrationen der Naturgewalt.
Der Sog des Buchs
Viel gibt es an diesem Buch also eigentlich nicht zu kritisieren. Die Autorin schafft es, so szenisch wie nur vorstellbar ihre Geschichte zu erzählen und präsentiert uns immer wieder ein Bild vor unserem lesenden Auge. Wer mit dieser in Bausteinen dargebotenen Form nicht zurechtkommt, könnte Probleme haben, sich in den Sog des Buchs hineinziehen zu lassen.
Aber das tut der Qualität von Irene Solàs Buch keinen Abbruch. Im Gegenteil, es verstärkt so manch eine Wirkung teils erst noch. Lesefreude ist bei Singe ich, tanzen die Berge somit zu einem wesentlichen Teil von den Leserinnen und Lesern abhängig, kann sich aber doch sehr gut und schnell einstellen. Tipp: Das Buch sollte möglichst zusammenhängend gelesen werden, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Irene Solà: Singe ich, tanzen die Berge; 1. Auflage, März 2022; Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann; 208 Seiten; Hardcover mit Lesebändchen; ISBN: 978-3-98697-000-0; Trabanten Verlag; 22,00 €
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